Zukunftschancen

Behinderungen? Ganz Normal – mit Andreas Jesse

Episode Summary

„Es ist normal, verschieden zu sein.“ Dieser Leitspruch der sozialen Non-Profit-Organisation autArK steht für Andreas Jesse ganz oben. Der 56-Jährige ist Gründungsmitglied und Geschäftsführer von autArK und in seiner Arbeit unterstützt er Menschen mit Benachteiligungen und Behinderungen auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit. Dabei ist sein größter Wunsch, dass Diversität zur Normalität wird. Durch das Gespräch führt Marina Herzmayer. Dieser Podcast wird präsentiert vom Bundesministerium für Arbeit und Wirtschaft.

Episode Notes

„Es ist normal, verschieden zu sein.“ Dieser Leitspruch der sozialen Non-Profit-Organisation autArK steht für Andreas Jesse ganz oben. Der 56-Jährige ist  Gründungsmitglied und Geschäftsführer von autArK und in seiner Arbeit unterstützt er Menschen mit Benachteiligungen und Behinderungen auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit. Dabei ist sein größter Wunsch, dass Diversität zur Normalität wird. 
Durch das Gespräch führt Marina Herzmayer. 
Dieser Podcast wird präsentiert vom Bundesministerium für Arbeit und Wirtschaft.

Episode Transcription

[Intro-Musik]

Marina Herzmayer:    „Es ist normal, verschieden zu sein.“ Dieser Leitspruch der sozialen Non-Profit-Organisation autArK steht für meinen heutigen Gast ganz oben. Andreas Jesse ist 56 Jahre alt, Gründungsmitglied und Geschäftsführer von autArK und in seiner Arbeit unterstützt er Menschen mit Benachteiligungen und Behinderungen auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit. Dabei ist sein größter Wunsch, dass Diversität zur Normalität wird.

Mein Name ist Marina Herzmayer und ich führe heute durch dieses Gespräch.

[Musik]

Marina Herzmayer:    Hallo Andreas! Schön, dass wir heute bei dir sein dürfen in Klagenfurt, bei euch in der Firma.

 

Andreas Jesse:          Hallo Marina!

 

Marina Herzmayer:    autArK ist ja keine ganz so junge Firma mehr. Euch gibt es inzwischen ja schon seit 25 Jahren. Warum hat es autArK damals gebraucht?

 

Andreas Jesse:          Es gibt uns 25 Jahre. Wenn ich das mit anderen traditionellen Organisationen vergleiche, dann sind wir eigentlich doch sehr jung. Warum hat es uns gebraucht? Ich selbst bin vor rund 34 Jahren in die Arbeit mit Menschen mit Behinderungen eingestiegen und habe damals in Kärnten – aber das war ja für Kärnten nicht einzigartig, sondern hat ganz Österreich betroffen – eine sehr, sehr institutionalisierte Angebotslandschaft vorgefunden. Ich sage jetzt einmal, das waren überwiegend Heim-Strukturen. Und die Idee der Gründung von autArK war, Strukturen aufzubauen, die dezentral sind und die andere Konzepte bieten als nur Konzepte, die Heim-Strukturen beinhalten.

 

Marina Herzmayer:    Und wer sind dann jetzt eure Kundinnen und Kunden? Wer kann sich bei euch Unterstützung holen?

 

Andreas Jesse:          Also inzwischen hat sich unser Angebot sehr erweitert. Und wenn ich das jetzt einmal so zusammenfassen darf, dann sind unsere Kundinnen und Kunden Menschen, die irgendeine Form von Unterstützungsbedarf mitbringen. Zu uns können Menschen kommen, die zum Beispiel Lernschwächen haben. Zu uns können Menschen kommen, die eine psychische Erkrankung haben. Zu uns können aber auch Menschen kommen mit körperlicher Behinderung oder mit mentalen Behinderungen. Genauso wie zu uns Menschen kommen können, die irgendeine Form der Sinnesbehinderung haben. Das Gute ist, dass wir vom Übergang Schule > Beruf über die gesamte Lebensspanne begleiten können.

 

Marina Herzmayer:    Und ich habe auch gesehen, dass euer Angebot richtig breit aufgestellt ist. In welchen Bereichen bekommen die Menschen Unterstützung von euch?

 

Andreas Jesse:          Defacto in vielen Lebensbereichen. Wir haben Angebote, die bei der Arbeit, bei der Suche nach Arbeit, beim Finden von Arbeit beziehungsweise auch während der Arbeit unterstützen. Wir haben Ausbildungs- und Qualifizierungsangebote. Wir haben aber auch zahlreiche Wohnangebote. Wohnangebote, die von der sogenannten Wohnassistenz (also die stundenweise Begleitung im Wohnen) bis hin zu einer eigentlich 24-Stunden-Betreuung gehen. Und wir haben aber auch Tagesstätten. So auch Tagesstätten für Menschen im Alter. Demografisch gesehen ist unser Einstiegsangebot das sogenannte Jugendcoaching. Dieses Jugendcoaching passiert am Übergang Schule > Beruf, das heißt im letzten Pflichtschuljahr. Und dort docken wir bei Jugendlichen an, die in irgendeiner Form eine Beratung oder eine Begleitung bei weiterführender Ausbildung nach der Pflichtschule brauchen. Das können junge Menschen sein, die Lernschwierigkeiten haben. Das können aber auch junge Menschen sein, die aufgrund sozialer Defizite Einstiegsprobleme haben in die Berufsausbildung. Das können aber auch Menschen sein, die eine Suchtproblematik mitbringen. Auch in dem Alter gibt es Wohnungslosigkeit. Armut ist oft im Hintergrund. Also einfach soziale Verhältnisse, die den Einstieg ins Berufsleben nicht einfach machen.

 

Marina Herzmayer:    Mhm. Du hast erwähnt Lernschwierigkeiten und Lernschwäche. Was kann man sich darunter vorstellen? Wie wird das definiert oder was gehört da alles dazu?

 

Andreas Jesse:          Das macht sich zum Beispiel bemerkbar durch mehrere ‚Nicht Genügend‘ in einem Abschlusszeugnis. Das kann aber auch das sogenannte SPF, also der sonderpädagogische Förderbedarf, im Zeugnis sein. Beispiele dafür können aber auch die Legasthenie oder Dyskalkulie oder letztlich auch jegliche Form von Leistungsschwächen sein.

 

Marina Herzmayer:    Ok. Jetzt sind das ja schon einige Herausforderungen. Welchen Herausforderungen stehen jetzt Menschen mit zum Beispiel körperlicher Behinderung, mit geistigen Beeinträchtigungen oder eben Lernschwächen in der Gesellschaft oder in der Arbeitswelt gegenüber?

 

Andreas Jesse:          Also die Herausforderungen sind natürlich sehr vielfältig. Herausforderungen sind sicher einmal Vorurteile in der Gesellschaft. Herausforderungen können sein, einfach Menschenbilder, die immer auf Perfektion hin fokussiert sind. Herausforderungen können aber auch Unwissenheit und Ängste sein. Wie begegnet man solchen Menschen? Und eine der größten Herausforderung, so glaube ich, ist mangelnde oder überhaupt fehlende Barrierefreiheit.

 

Marina Herzmayer:    Wenn jetzt Kundinnen oder Kunden zu euch kommen, die sich von euch unterstützen lassen möchten, wie findet ihr heraus, wer wo einsetzbar ist? Wo die Stärken liegen? Wer zum Beispiel allein wohnen kann oder beim wem das vielleicht nicht funktioniert? Welche Unterstützung könnt ihr da geben?

 

Andreas Jesse:          Also dieses Herausfinden ist natürlich auch sehr vielfältig. Jeder Mensch, der zu uns kommt, kommt mit einem speziellen Anliegen. Und auf dieses Anliegen hin – je nachdem um was es geht – gibt es dann Gespräche. Man kann sich Informationen aus diversen Gutachten und Befunden holen. Informationen bekommt man aber auch aus speziellen Testungen und anderen Verfahren, wo man einfach draufkommt, wo die Stärken der Menschen liegen und wo die Wünsche der Menschen sind. In der Zusammenarbeit bildet sich dann ein Gesamtbild. Dieses Gesamtbild ist dann die Grundlage für nächste Schritte.

 

Marina Herzmayer:    Jetzt habe ich ein bisschen nachgelesen: Ihr wart am Anfang nur vier Personen, die autark gegründet haben. Inzwischen seid ihr fast 600 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Ist das Angebot so gestiegen oder die Nachfrage, um wirklich Hilfe zu holen und auch Hilfe zu nehmen?

 

Andreas Jesse:          Das ist einmal grundsätzlich eine gewaltige Entwicklung, die wir da hingelegt haben. Auf die sind wir alle sehr stolz. Auf die Frage hin, Angebot und/oder Nachfrage, muss ich sagen: beides. Ich habe anfangs im Gespräch erwähnt, dass wir sehr dezentral arbeiten wollen und Gegenmodelle zu Heim-Strukturen anbieten wollen. Und wenn man diesen Hintergrund vor sich hat, dann ist es tatsächlich so, dass wir einerseits mit unseren Angeboten hinaus in die Regionen gegangen sind. Dorthin, wo der Bedarf ist; dorthin, wo die Menschen ein Angebot brauchen. Andererseits ist es definitiv so, dass dadurch eine Vielzahl an neuen Dienstleistungen entstanden ist. Das heißt, auch die Angebotspallette hat sich erweitert. Und gleichzeitig muss man einfach sagen, in diesen 25 Jahren seit es uns gibt, haben sich auch viele, viele Rahmenbedingungen verändert und auch die Ansprüche der Personen, die wir begleiten. So gibt es zum Beispiel inzwischen die UN-Behindertenrechtskonvention. Österreich hat sich ja dazu bekannt, die UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen. Und wenn man diese Konvention als einen Masterplan für die Entwicklung von Dienstleistungen sieht, dann passiert genau das, was bei uns passiert ist. Es werden immer mehr Dienstleistungen und es gibt eine immer buntere Angebotslandschaft. Und ich glaube auch, dass natürlich die Anzahl der Menschen, die Unterstützung brauchen, teilweise auch mehr geworden ist.

 

Marina Herzmayer:    Und was sich hoffentlich in den letzten 25 Jahren auch positiv verändert hat, ist das Verständnis, dass Unterschiede normal sind. Ich habe nachgelesen. Ich glaube zirka 15 Prozent unserer Gesellschaft sind von einer Behinderung betroffen. Das ist doch eine beträchtliche Anzahl. Wie nimmst du das so wahr? Was hat sich da in den letzten 25 Jahren Positives entwickelt? Kannst du das auch so aus der Praxis sagen?

 

Andreas Jesse:          Ja. Also diese 15 Prozent, das ist eine Zahl, die kommt von der Weltgesundheitsorganisation … also von der WHO. Und die WHO geht davon aus, dass 15 Prozent der Weltbevölkerung entweder permanent oder vorübergehend von irgendeiner Form von Behinderung betroffen sind. Diese Zahl, 15 Prozent, die findet man dann in Schriften der Europäischen Union. Diese Zahl, 15 Prozent, findet man dann natürlich auch in Schriften in Österreich. Von dieser Zahl wird ausgegangen. Und – das ist vielleicht noch ein wichtiger Fakt – 1970 waren es laut WHO zirka 10 Prozent der Gesamtbevölkerung. Und davon ausgehend, dass diese Zahl von 10 auf 15 Prozent gestiegen ist … Man muss einfach sagen, dass das Fakten sind. Und das sind Fakten, wo man Unterstützungsbedarf ableiten kann. Und wir sind, neben anderen Organisationen, eine, die schaut, wie man zeitgemäß diesen Unterstützungsbedarf organisieren, entwickeln – im Sinne auch von Innovation weiterentwickeln – kann. Auch vor dem Hintergrund, dass wir als Gesellschaft gut zusammenleben können.

 

Marina Herzmayer:    Und gerade wenn du sagst, die Gesellschaft da miteinbeziehen. Gibt es ein Beispiel oder gibt es eine Möglichkeit zu verstehen, wie es Menschen geht, die eine Beeinträchtigung haben oder die eine Lernschwäche haben? Kann man das als gesunder Mensch an irgendeinem Beispiel festmachen oder nachvollziehen? Oder ist das eigentlich unmöglich?

 

Andreas Jesse:          Ich glaube, dass es nicht möglich ist, das nachzuvollziehen. Wir können mutmaßen und wir können annehmen. Aber ich glaube, die beste Quelle, um das in Erfahrung zu bringen, sind die betroffenen Menschen selbst. Im Sinne von: Das sind Experten und Expertinnen in eigener Sache.

 

Marina Herzmayer:    Mhm. Also einfach fragen und darüber reden?!

 

Andreas Jesse:          Einfach fragen. Einfach darüber reden. Offen sein und wertschätzend begegnen. Ich glaube man kann dann sehr viel erfahren.

 

Marina Herzmayer:    Und am Arbeitsmarkt, du hast es ja schon angesprochen, hat sich einiges getan. Ihr habt auch einige Vorzeigeunternehmen, auch hier in Kärnten, die sich verstärkt für Menschen mit Behinderung oder Menschen mit Beeinträchtigung annehmen. Ich habe auch gelesen, dass da manches Mal am Anfang Hürden bestehen, die man irgendwie schaffen kann oder muss. Was sind das für Hürden und wie kann man die überbrücken?

 

Andreas Jesse:          Die Integration am allgemeinen Arbeitsmarkt, die berufliche Integration, ist natürlich immer eine Herausforderung. Die Hürden sind natürlich auch sehr zahlreich und vielfältig, treten aber nicht immer in derselben Kombination auf. Hürden können sein, dass es einfach ein falsches Bild oder eine falsche Haltung gegenüber Menschen mit Behinderungen gibt. Ein vorherrschendes Bild ist: Menschen mit Behinderungen haben keine Fähigkeiten. Oder ein ebenfalls falsches Bild, das man sehr stark im unternehmerischen Kontext immer bemerkt, ist: Menschen mit Behinderungen wird man als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht mehr los. Ich würde einmal sagen, dass das alte und überholte Bilder sind, denn es gibt sehr viele good und best practice Beispiele, dass es genau das Gegenteil ist. Was glaube ich auch sehr wichtig ist in der Wirtschaft ist, dass das ganze nur dann funktioniert, wenn auch das Management eines Unternehmens, oder in kleineren Unternehmen der Chef oder die Chefin, auch tatsächlich davon überzeugt ist, dass sie mit Menschen mit Behinderungen zusammenarbeiten wollen. Das heißt, berufliche Integration funktioniert top down. Und wenn es top down passiert, dann kann man diese Haltung quer durch das Unternehmen und durch die gesamte Organisationsstruktur durchtragen und dann funktioniert auch berufliche Integration sehr gut.

 

Marina Herzmayer:    Das klingt für mich so, als wäre es hauptsächlich ein Problem des Mindsets und der Einstellung und gar nicht, dass man das halbe Büro umbauen muss. Sondern wirklich die Einstellung, wie du gesagt hast. Wie geht ihr mit solchen Unternehmen um wenn ihr merkt, dass da noch ein bisschen ein Zweifel oder eine Scheu dahinter ist?

 

Andreas Jesse:          Es gibt ja erstens einmal sichtbare und unsichtbare Behinderungen. Diese Bilder, von denen ich gesprochen habe, die ergeben sich ja grundsätzlich aus den sichtbaren Behinderungen. Es mag schon sein, dass dort und da auch Barrierefreiheit oder bauliche Veränderungen im Sinne einer baulichen Barrierefreiheit notwendig sind, aber das ist nicht immer der Fall. Und wie gehen wir damit um? Wir gehen so damit um, indem wir beraten. Wir haben ein eigenes Team. Das sind unsere Betriebskontakter und Betriebskontakterinnen, die wirklich in der Wirtschaft unterwegs sind und einfach eine unentgeltliche und kostenlose Beratung für Unternehmen anbieten. Sie versuchen dieses Bild von Behinderung einmal entsprechend zu präsentieren, Vorurteile auszuräumen und gleichzeitig Dienstleistungen anzubieten, die in diese Richtung gehen, dass kein Unternehmen, welches mit Menschen mit Behinderungen zusammenarbeiten will, allein gelassen wird. Da gibt es eine ganze Palette an unterschiedlichen Dienstleistungen, die dann für alle Beteiligten – das heißt für Menschen mit Behinderungen genauso wie für Unternehmen – kostenlos im Auftrag des Sozialministeriums vorhanden ist.

 

Marina Herzmayer:    Und dann fällt mir noch ein Punkt ein. Es ist ja auch oft, glaube ich, immer noch das Thema: Was darf man denn wirklich sagen? Wie ist die richtige Ausdrucksweise? Zum Beispiel darf man das Wort „behindert“ noch verwenden? Wie drückt man sich denn heute richtig und vor allem political correct aus?

 

Andreas Jesse:          Da gibt es jetzt zwei Aussagen dazu, die miteinander zusammenhängen. Das erste ist einmal, politisch korrekt ist: ‚Menschen mit Behinderungen‘. Erstens einmal ist in dieser Formulierung der Mensch im Vordergrund und – vielleicht ist es dir aufgefallen – die Mehrzahl ‚Menschen mit Behinderungen‘. Denn bei dieser Formulierung wird davon ausgegangen, dass einerseits der betroffene Mensch selbst ein Handicap, eine Behinderung mitbringt; gleichzeitig aber auch Behinderungen seitens der Umwelt vorhanden sind. Das heißt zum Beispiel fehlende Barrierefreiheit. Das ist eine Behinderung, die von außen kommt. Daher diese Mehrzahl. Und dann gibt es noch in Erweiterung dieses Begriffes – und das lese ich jetzt herunter – eine Definition, die lautet: „Einander respektvoll und auf Augenhöhe begegnen. Wir brauchen kein Mitleid und keine Heldenverehrung für ein Leben mit Behinderungen“. Das ist eine Definition, die aus dem Österreichischen Behindertenrat kommt. Der Österreichische Behindertenrat ist eine große Dachorganisation, die Menschen mit Behinderungen als Interessensvertretung vertritt. Von dort kommen diese Definitionen, von denen ich jetzt gesprochen habe. Und in unserem wording gehen wir immer von diesen Definitionen aus.

 

Marina Herzmayer:    Also, solange man den Menschen in das Zentrum stellt, kann man wie immer, wie wir es schon gesagt haben, normal reden.

 

Andreas Jesse:          Genau.

 

Marina Herzmayer:    Jetzt habe ich noch etwas gelesen, und zwar von einer Quote bei den Anstellungen; dass quasi pro 25 Angestellte eine begünstigt behinderte Person angestellt werden muss. Ist das richtig? Für wen gilt das? Und wird das auch so umgesetzt?

 

Andreas Jesse:          Ja, das stimmt. Da ist im Hintergrund das Behinderteneinstellungsgesetz. Das ist ein Bundesgesetz, welches unter anderem auch die berufliche Integration von Menschen mit Behinderungen regelt. In diesem Gesetz findet man genau diese Regelung, von der du gesprochen hast. Das heißt, jedes Unternehmen muss ab 25 Mitarbeitern oder pro 25 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine sogenannte Pflichtstelle besetzen. Macht das das Unternehmen nicht, aus welchem Grund auch immer, ist eine sogenannte Ausgleichstaxe zu bezahlen. Das ist jetzt österreichische Gesetzgebung. Wenn wir das jetzt auf große Unternehmen umlegen – ich sage jetzt einmal ein Unternehmen mit 500 Mitarbeitenden – müsste 20 Menschen mit Behinderungen einstellen. Das ist natürlich teilweise eine Riesenherausforderung. Aber – und das ist auch ein Teil dieser Dienstleistungen, von denen ich gesprochen habe – wir unterstützen die Wirtschaft dabei, ihre Quotenplätze sozusagen besetzen zu können und das ganze so zu besetzen, dass es auch tatsächlich zu win-win-Situationen für alle Beteiligten kommt.

 

Marina Herzmayer:    Win-Win-Situation ist schon ein super Stichwort. Das würde mich nämlich auch interessieren. Es gibt bei uns gesunden Menschen so viele Unterschiede. So viele unterschiedliche Talente und Stärken und Schwächen, die wir alle mitbringen. Und wie euer Slogan schon sagt, den ich am Anfang erwähnt habe: Es ist normal, verschieden zu sein. Und vor allem, wie wir auch wissen, wir profitieren immer voneinander … von extrovertierten und introvertierten und mathematischen und kreativen Menschen. Wie kann ich mir das vorstellen, diese win-win-Situation? Wie kann man profitieren, von einem Menschen mit Beeinträchtigungen, der bei mir in der Firma arbeitet?

 

Andreas Jesse:          Also hinter diesem Slogan, den du angesprochen hast, da steckt die Haltung, dass jeder Mensch Fähigkeiten hat. Wirklich jeder Mensch hat Fähigkeiten. Und davon leitet sich ab – und so arbeiten wir auch – dass wir wirklich fähigkeitsorientiert arbeiten. Wir schauen, welche Ressourcen jemand mitbringt und welche Wünsche jemand hat. Wenn man das als Basis hernimmt, dann ist das schon einmal ein wesentlicher Schritt in Richtung Erfolg. Das umgekehrte Modell würde lauten: Wir schauen was jemand nicht kann, versuchen das, was jemand nicht kann zu kompensieren im Sinne von – das fördern wir, das versuchen wir durch Trainings auszumerzen – das ist der völlig falsche Ansatz. Das heißt, das Motto lautet: Stärken stärken. Und wenn man die Stärken richtig einsetzt, dann ist man auch erfolgreich. Und was mir noch ganz, ganz wichtig ist, ist zu sagen, diese win-win-Situationen – man findet auch sehr oft den Begriff benefits für alle Beteiligten – sind etwas, die dann allen einen Nutzen bringen. Und ich sehe dieses Wort ‚Nutzen‘ ist oft sehr umstritten. Ich sage sehr gerne an dieser Stelle: Nutzen ohne auszunutzen. Und dann glaube ich, ist das etwas, das auf Augenhöhe passiert und da kann es dann nur Gewinner und Gewinnerinnen geben.

 

Marina Herzmayer:    Damit wir uns das ein bisschen vorstellen können … Hast du für uns aus euerer Firma, von euren Kundinnen und Kunden, von autArK ein Beispiel für uns, wie diese Integration oder diese win-win-Situation stattgefunden hat?

 

Andreas Jesse:          Ja. Ich würde sagen, unsere gesamte Organisation profitiert eigentlich nur von solchen win-win-Situationen. Wir selbst als Unternehmen erfüllen natürlich auch diese Einstellpflicht. Wir sind teilweise sogar darüber. Und ich kann jetzt nur aus eigener Erfahrung sagen, dass das wunderbar funktioniert. Auch wir haben dann den Nutzen, dass wir keine Ausgleichszahlungen haben. Und wir haben aber noch ganz, ganz viele andere Nutzen. Das sage ich jetzt aus eigener Erfahrung. Das ist zum Beispiel, dass auch unsere Unternehmenskultur davon geprägt wird. Man merkt einfach, dass die Zufriedenheit der einzelnen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen oder auch gesamter Teams eine andere wird; die Loyalität zum Unternehmen erhöht sich. Dann eben auch dieser monetäre Nutzen, dass wir keine Ausgleichszahlungen haben und man im Einzelfall sogar dort und da Lohnkostenzuschüsse bekommt, um Leistungsverminderungen zu kompensieren. Wir haben definitiv weniger Fluktuation im Unternehmen. Ich glaube das gilt auch für alle Unternehmen, was ich jetzt gesagt habe, so auch das letzte Argument. Es tut etwas Positives für das Image des Unternehmens.

 

Marina Herzmayer:    Und die Normalität wird bei euch zu 100 Prozent gelebt? Was würdest du sagen? Wie schätzt du das ein?

 

Andreas Jesse:          Es ist normal, verschieden zu sein. Das ist eine Grundhaltung im Unternehmen. Ich würde einmal behaupten, das ist ein Teil unserer Unternehmens-DNA. Und ich glaube das ist auch ein Teil des Geheimnisses. Nämlich, wir müssen einfach schauen, dass Menschen mit Behinderungen und anderen Benachteiligungen ganz normal in allen Lebensbereichen am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Ich sage es jetzt anders: Solange man diese Personengruppen und diese Menschen versteckt oder abschottet in zum Beispiel Heimen und das vielleicht auch noch irgendwo sehr dezentral, wo kein gesellschaftliches Leben stattfindet, dann ist es auch etwas, das die Gesellschaft nicht kennt. Wenn das aber so ganz normal im Alltag passiert … Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen mit Behinderungen. Im Lebensbereich Wohnen, Nachbarinnen und Nachbarn mit Behinderungen zu haben und so weiter … auch im gesamten Freizeitbereich … überall … dass Behinderung einfach Teil des Alltags ist, dann wird es zur Normalität.

 

Marina Herzmayer:    Ein Punkt ist mir jetzt noch eingefallen, der in aller Munde ist: Arbeitskräftemangel. Wie wichtig wird das – auch vor dem Hintergrund dieses Problems – dass man sagt: „OK, das ist ein weiterer Pott, den ich öffnen kann, um mir Arbeitskräfte zu holen.“

 

Andreas Jesse:          Also Menschen mit Behinderungen werden den Arbeitskräfte- und Fachkräftemangel nicht kompensieren. Aber es ist definitiv ein Teil der Lösung.

 

Marina Herzmayer:    Und wenn du jetzt ein bisschen in die Zukunft schaust, Andreas, was wäre dein Wunsch für die Gesellschaft?

 

Andreas Jesse:          Mein Wunsch für die Gesellschaft ist es definitiv, dass unser sozial- und wohlfahrtsstaatliches System, auf diesem Niveau wie wir es haben, erhalten bleibt. Vielleicht sogar für manche Menschen dort und da noch ausgebaut und verbessert wird. Ich glaube das ist einmal die Grundlage für eine funktionierende Gesellschaft und für ein gutes Zusammenleben aller Menschen. Das ist einmal so das große Ziel und der große Wunsch von mir. Und vor diesem Hintergrund ist es ein weiterer Wunsch, dass zum Beispiel alle Menschen mit Behinderungen, die arbeiten wollen, auch tatsächlich einen Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt bekommen. Das würde bedeuten: Weg von zum Beispiel Arbeitssituationen, wo sie nur ein Taschengeld bekommen und ein Leben lang wie Kinder bei ihren unterhaltspflichtigen Angehörigen mitversichert sind. Das heißt: Erwerbsarbeit, eigener Lohn, eigene Sozialversicherung. So wie wir alle. Ja … und das ist dann eine wesentliche Grundlage dafür, dass ich auch an anderen Lebensbereichen teilhaben kann.

 

Marina Herzmayer:    Vielen herzlichen Dank, Andreas Jesse!

 

Andreas Jesse:          Ich sage Danke.

 

[Musik]

 

Marina Herzmayer:    Herzlichen Dank an alle Zuhörerinnen und Zuhörer. Wenn euch der Podcast gefallen hat, bewertet ihn bitte auf Apple Podcast oder Spotify. Und wenn ihr der Meinung seid, diese Folgen sollten mehr Menschen zu hören bekommen, dann empfehlt unser Format gerne weiter.

 

[Musik klingt aus]