Zukunftschancen

ITler mit Autismus gesucht - mit Dieter Hahn

Episode Summary

Dieter Hahn arbeitet in einem weltweit einzigartigen Unternehmen. Der 54-Jährige ist Geschäftsführer der Auticon Deutschland GmbH, einem Unternehmen welches fast ausschließlich Menschen im Autismus Spektrum beschäftigt. Hier werden Stärken gestärkt. Denn Autismus ist kein Softwarefehler, sondern lediglich ein anderes Betriebssystem. Durch das Gespräch führt Marina Herzmayer. Dieser Podcast wird präsentiert vom Bundesministerium für Arbeit und Wirtschaft.

Episode Notes

Dieter Hahn arbeitet in einem weltweit einzigartigen Unternehmen. Der 54-Jährige ist Geschäftsführer der Auticon Deutschland GmbH,  einem Unternehmen welches fast ausschließlich Menschen im Autismus Spektrum beschäftigt. Hier werden Stärken gestärkt. Denn Autismus ist kein Softwarefehler, sondern lediglich ein anderes Betriebssystem. 
Durch das Gespräch führt Marina Herzmayer. 
Dieser Podcast wird präsentiert vom Bundesministerium für Arbeit und Wirtschaft
 

Episode Transcription

Marina Herzmayer:    Willkommen bei Zukunftschancen, dem Podcast für berufliche Perspektiven; präsentiert vom Bundesministerium für Arbeit und Wirtschaft. In diesem Themenblock unseres Podcasts sprechen wir über die Inklusion aller Menschen im Arbeitskontext.

 

[Intro-Musik]

 

Marina Herzmayer:    Mein heutiger Gast arbeitet in einem weltweit einzigartigen Unternehmen. Dieter Hahn ist 54 Jahre halt und Geschäftsführer der auticon GmbH Deutschland. Ein Unternehmen, welches fast ausschließlich Menschen im Autismus-Spektrum beschäftigt. Hier werden Stärken gestärkt. Denn Autismus ist kein Softwarefehler, sondern lediglich ein anderes Betriebssystem.

                                   Mein Name ist Marina Herzmayer und ich führe heute durch dieses Gespräch.

 

[Musik]

 

Marina Herzmayer:    Lieber Dieter, vielen herzlichen Dank, dass du dir Zeit genommen hast und uns heute ein wirklich neues Gebiet noch einmal eröffnest. Ich freue mich sehr über deine Expertise. Du bist ja seit 2013 im Unternehmen und ich habe gelesen, dass zirka 75 Prozent eurer Mitarbeiter Autisten sind. Du hast ja auch vorher schon, wie ich erfahren habe, in anderen Firmen mit IT Background gearbeitet. Merkst du einen Unterschied? Und wenn ja, wie zeigt sich der?

 

Dieter Hahn:               Gut. Erstmal herzlichen Dank für die Einladung. Das hat mich wirklich sehr gefreut. Ahm ja, also es gibt einen Unterschied. Vorher war ich in der IT Branche, habe sehr viel mit den ganzen Technologien, Solutions und Produkten zu tun gehabt. Und jetzt – auticon ist ja im Beratungsgeschäft; also sozusagen im people business. Das ist ein kompletter Unterschied zu dem. Was ich sehr spannend finde – und das ist der ganz große Unterschied – ist, dass auticon ein Sozialunternehmen ist. Es verbindet also beide Welten. Bisher kam man eher von dem Charity-Ansatz. Gerade aus der USA, wo man sagt, wohlhabende Menschen spenden viel Geld um Gutes zu tun. Und der Ansatz von auticon ist der, dass man sagt, wir verbinden beide Welten. Wir sind ein profitorientiertes Unternehmen, also gewinnorientiert. Hier gibt es GuV, wir haben Bilanzen. Und durch unser Wirken und unsere Arbeit ist unsere Profitabilität so erfolgreich, dass wir eben das Thema Soziales, den Mehrwert für unsere Kolleginnen und Kollegen sowie für die Gesellschaft erwirken können. Also wir haben einen sehr starken Anspruch durch unser Tun und durch unser Wirken einen positiven Effekt auf die Gesellschaft zu haben und möglichst viele Autisten in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren.

 

Marina Herzmayer:    Jetzt ist es ja so, dass du sehr, sehr viel Erfahrung gesammelt hast in den ganzen letzten Jahren. Wie kann ich mir das vorstellen? Wie erlebt ein Mensch auf dem Autismus-Spektrum die Welt? Wie nimmt der sie um sich herum wahr?

 

Dieter Hahn:               Das ist eine interessante Frage. Wenn du einen Autisten oder eine Autistin fragst, dann würden wahrscheinlich die meisten sagen: „Normal.“ Nur das ‚normal‘ ist natürlich aus unserer Perspektive nicht normal. Also man muss sich das so vorstellen, dass bei Autisten die Neurotransmitter anders funktionieren im Gehirn. Das heißt, alle Umwelteinflüsse gehen ungefiltert in den Kopf. Ich nenne einmal ein Beispiel: Wenn ein Autist auf einer Party ist und alle um ihn herum sich unterhalten, dann kann er sich nicht auf einen Gesprächspartner konzentrieren, sondern alle Geräusche und Gespräche prasseln ungefiltert in seinen Kopf. Und es ist für ihn dann extrem schwierig und auch stressig, sich zu konzentrieren. Man muss sich das vielleicht so vorstellen, dass man sagt, er fängt jetzt auch noch zum Reden an und hält sich ein Ohr zu. Dann hat er keine räumliche Wahrnehmung mehr. Und die eigene Unterhaltung geht in der Geräuschkulisse unter. Das ist jetzt ein hervorgehobenes Beispiel, wie das funktionieren kann. Oder auch wenn wir in Unternehmen sind, gibt es ja auch viele Teambesprechungen. Das kann sehr gut funktionieren, wenn man sich an Regeln hält; dass die Teammitglieder im Unternehmen nacheinander abgestimmt sprechen in einer gewissen Zeit. Aber wenn alle durcheinanderreden, ist es für autistische Menschen extrem schwierig, das Thema dann konzentriert nachzuverfolgen. Es gibt andere Beispiele. Manche sind sehr lichtempfindlich. Wenn da zum Beispiel eine Neonlampe oder ein hochfrequentes Licht ist, was aus seiner oder ihrer Sicht flackert, dann längt das ab. Das schwächt dann auch wieder die Konzentrationsfähigkeit. Also es ist sehr unterschiedlich. Es ist wirklich bei jedem etwas anders. Man kann dazu sagen, dass wirklich alle Umwelteinflüsse ungefiltert ins Gehirn gehen, und das ist das, was wir dann sozusagen managen. Auch in den Gesprächen mit den Kunden. Wir schaffen dann sozusagen die Rahmenbedingungen für unsere Kolleginnen und Kollegen, sodass diese ihre Stärken bestmöglich entfalten können.

 

Marina Herzmayer:    Mhm. Dazu kommen wir später noch genauer. Das heißt aber wirklich, wenn ich jetzt angenommen in einer Küche stehe, dann hört ein Autist oder eine Autistin das Klicken der Uhr genauso laut wie das Klopfen auf den Kochtopf und das Rinnen des Wassers. Und wenn das alles zusammenkommt, ist das ein richtiger overload, oder?

 

Dieter Hahn:               Das ist richtig. Sie können die Sachen nicht ausfiltern. Es ist oft so in Besprechungen: Wir konzentrieren uns auf das Gespräch und wenn das Fenster geöffnet ist und draußen ein LKW vorbeifährt, können wir das ausblenden. Das irritiert uns nicht. Bei autistischen Menschen ist das eben nicht so. Da wird alles ungefiltert aufgenommen.

 

Marina Herzmayer:    Und du hast es ja schon angesprochen … Es heißt immer: „Kennt man einen Autisten, kennt man genau einen Autisten.“ Weil eben das Spektrum oder die Unterschiede so riesig sind. Gibt es trotzdem Wegweiser für den Umgang im Alltag mit Autisten und Autistinnen?

 

Dieter Hahn:               Die gibt es auf jeden Fall. Was wir oder ich auch sehr stark gelernt haben ist, eine klare Kommunikation. Wenig in Konjunktiven reden, sondern einfach klare Aussagen treffen und klare Forderungen stellen: das ist der Arbeitsauftrag und das ist die Deadline. Wenn man dazu übergeht und sehr unkonkret ist: „Könnten Sie mal das bis dahin machen und wenn Sie fertig sind, kommen Sie zu mir.“ Das ist sehr unkonkret für einen Autisten. Am besten ist es, wenn man sagt, was man genau will und bis wann man es braucht. Dann bekommt man die besten Ergebnisse und sehr exakt zeitgenau.

 

Marina Herzmayer:    Jetzt habe ich immer das Gefühl, wir leben oft in einer Vielleicht-Gesellschaft. Gerade dieses ja, nein und konkrete Sprechen fehlt oft. Und trotzdem schaffen es Autisten und Autistinnen sich irgendwie einzuleben. Ich habe ein Zitat von einem Herrn, der selbst aus dem Autisten-Spektrum ist, gefunden. Der hat gesagt: „Ich spiele 24 Stunden am Tag eine Rolle und das ist verdammt anstrengend.“ Was ist denn dieses Maskieren genau und warum machen das Autisten und Autistinnen? Oder warum müssen sie das auch machen?

 

Dieter Hahn:               An sich ist es falsch und schade, dass sie es machen müssen. Das Thema ist, dass unsere Gesellschaft einfach Menschen, die aus ihrer Sicht nicht der Norm entsprechen, in Schubladen steckt. Und Autisten versuchen einen Eigenschutz zu machen, indem sie sagen, dass sie nicht ausgegrenzt werden wollen und versuchen sich deswegen anzupassen. Das ist aber extrem anstrengend. Ich habe selber Beispiele erlebt. Ich hatte vor Jahren einmal einen Finanzmathematiker bei mir zum Vorstellungsgespräch, der wollte unbedingt zu auticon kommen. Der hat gesagt, dass er seit 20 Jahren bei einer großen Versicherung eine Rolle spielt und es ihn extrem anstrengt. Und das ist genau so eine Situation was viele machen mit diesem masking. Die stressen sich selber. Sie schaffen es vielleicht den Tag gerade so rüber zu bringen, aber wenn sie dann daheim sind, dann kann es oft schlimme Auswirkungen haben. Es kann dann wirklich zum Meltdown und irgendwann zum Burnout kommen. Am besten wäre es, sie müssten sich nicht verstecken und sie könnten so sein, wie sie eigentlich sind. Und da ist glaube ich ein sehr wichtiger Auftrag für auticon, dass wir eben mehr awareness schaffen wollen im Unternehmen und in der Gesellschaft, um das Thema dann in Zukunft so nicht mehr machen zu müssen. Dass man einfach sagt, es ist keine Schande und kein Fehler, wenn man sagt, dass man Autist ist. Es gibt ja immer mehr prominente Beispiele. Firmenchefs, die im Autismus-Spektrum sind. Und da müssen wir glaube ich mehr hinkommen, dass es einfach zur Normalität übergeht.

 

Marina Herzmayer:    Das gesamte Inklusionsthema beschäftigt sich ja intensiv damit. Jetzt würde mich noch etwas interessieren. Weißt du das vielleicht? Wie sieht ein Autist oder eine Autistin Menschen ohne Autismus? Weiß man, wie sie über uns denken?

 

Dieter Hahn:               Also ich glaube die meisten machen sich da gar keine großen Gedanken. Für die sind Menschen einfach Menschen. Für Autisten ist es eher so eine Herausforderung. Also da machen Autisten eigentlich einen Unterschied … auf der sozialen Komponente. Also ihnen kommen eher Menschen komisch vor, die aus ihrer Sicht unlogisch agieren. Also wenn jemand sehr emotional ist. Viele Menschen sind ja eher emotional oder kommunizieren sehr emotional. Das ist für Autisten sehr schwer einzuschätzen. Das hat auch damit zu tun … es gibt ja das Thema Alexithymie. Autisten haben eigentlich die Unfähigkeit, eigene Gefühle oder Gefühle von anderen Menschen zu erkennen. Also bei Nicht-Autisten oder neurotypischen Menschen sind es 10-14 Prozent, die diese Fähigkeit nicht haben. Bei Autisten ist der Anteil wesentlich höher. Der liegt etwa bei 50 Prozent. Und deswegen werden oft Sachen gar nicht wahrgenommen. Es gibt zum Beispiel bei uns Kolleginnen und Kollegen, die sind Gesichtsblind. Die können keinen Unterschied erkennen, ob jemand rothaarig ist … Also da gibt es wirklich konkrete Beispiele, wo man sagt, rothaarige Frau, braunhaarig, blond … unterschiedliche Größen … Der konnte einfach nie den Namen zu der Person zuordnen. Solche Beispiele habe ich selber erlebt, wo es zum Teil zu witzigen Situationen gekommen ist. Das sind dann so Themen, wo Autisten sich schwer tun im Umgang mit anderen Menschen. Aber an sich sind Autisten, wenn man eine klare Kommunikation hat, sehr logisch. Man kann einwandfrei mit autistischen Menschen sprechen. Ich habe da eigentlich nur beste Erfahrungen gemacht. Ich tue mich selber auch leichter, weil man konkret diskutiert und spricht. Ohne große Umschweife und Höflichkeitsfloskeln. Deswegen ist man nicht unhöflich. Aber was man sagt, nimmt ein Autist wörtlich. Also diese Lippenbekenntnisse und etwas zwischen den Zeilen sagen, vielleicht mit einem sarkastischen Unterton, ist für viele eher ein schwieriges Thema.

 

Marina Herzmayer:    Ich glaube wichtig ist aber zu erwähnen, dass Autisten trotzdem Emotionen oder Gefühle haben. Also sie können sich verlieben oder sie können traurig sein. Sie sind nicht komplett abgeschottet von Emotionen. Das ist glaube ich schon wichtig zu sagen, dass auch sie das erleben können, oder?

 

Dieter Hahn:               Ja, auf jeden Fall. Wir haben ja hier wirklich Mitarbeiter, die verheiratet sind und Kinder und eine Familie haben. Die Beziehung unter Autisten ist aber glaube ich trotzdem ein bisschen anders. Das ist mehr auf einer logischen Struktur aufbauend. Also Autisten untereinander empfinden die Kommunikation, glaube ich, eher mehr angenehm als mit Nicht-Autisten. Also es gibt natürlich auch unter einzelnen autistischen Kollegen auch manchmal Unterhaltungen, von denen man sagt, dass sie nicht zielführend sind. Aber das hat eher etwas mit unterschiedlichen Ansichten zu tun und jeder versucht besser und logischer zu argumentieren. Also solche Situationen hatten wir auch schon.

 

Marina Herzmayer:    Ich habe das auch gelesen von einem Autisten, der gesagt hat: „Wir sind so unterschiedlich. Ich muss mich auch an andere Autisten erst gewöhnen und erst den Umgang mit ihnen lernen.“ Eben, weil es so viele Unterschiede gibt. Also es ist wirklich ein lernen der anderen Person. Was bei uns vielleicht automatisch funktioniert und ein bisschen Gespür dabei ist, oder dieser Smalltalk und einfach miteinander umgehen … das müssen sie wirklich hart lernen bei jeder Person. Kann man das so sagen?

 

Dieter Hahn:               Das ist so. Also man muss vielleicht noch unterscheiden, dass es eben eine soziale Ebene der Kommunikation gibt. Denn oft gibt es vielleicht Missverständnisse in der Kommunikation. Die haben aber mit dem Autismus an sich nichts zu tun, sondern eher mit der Persönlichkeitsstruktur des Menschen. Das ist aber egal, ob das jemand mit oder ohne Autismus ist. Ich hatte erst die Diskussion mit einer Kollegin, die gemeint hat, Elon Musk ist zwar Autist, aber so wie er agiert, das hat vielleicht zum Teil mit Autismus zu tun, aber wahrscheinlich eher mit seiner Persönlichkeitsstruktur [lacht].

 

Marina Herzmayer:    [Lacht]. Stimmt. Du arbeitest ja jetzt schon sehr lange bei auticon. Kurz bevor du gekommen bist, als 2011, wurde die Firma in Berlin gegründet … von einem Vater, dessen Sohn ebenfalls Autist ist. Wie hoch ist denn ungefähr die Zahl in der Bevölkerung? Also wie viel Wichtigkeit oder wie viel Bedeutung hat es, dass es auticon gibt? Wie sehr braucht es Firmen wie auticon?

 

Dieter Hahn:               Also zum Thema, wie hoch der Anteil an Autisten in der Bevölkerung ist, gibt es unterschiedliche Statistiken. Mittlerweile kann man sagen, in Europa sind im Schnitt zwei Prozent der Bevölkerung Autisten oder in einem autistischen Spektrum. Man muss dazusagen, dass heutzutage die Testverfahren schon sehr viel fortgeschrittener sind als vor Jahren. Also jetzt ist es oft so, dass es schon im Kindesalter festgestellt wird. Dann kann man auch ganz anders damit umgehen. Zu der Zeit als ich damals bei auticon gestartet habe, 2013, waren noch sehr viele dabei, die gerade so Mitte 40 waren und da erst ihre Diagnose bekommen haben. Da ist für den einen oder anderen oft eine Welt zusammengebrochen. Manche haben immer verspürt, dass mit ihnen irgendetwas anders ist. Aber was genau das ist, haben sie nicht verstanden. Und dann gibt es entweder links oder rechts bei der Autismus-Diagnose. Andere sagen: „Jetzt weiß ich endlich was mit mir los ist.“ Die nehmen das Thema an und kommen im Leben gut voran. Und andere wirft das eher ein bisschen aus der Bahn. Die sagen: „Jetzt bin ich auch noch ein Autist. Da tue ich mich extrem schwer.“ Jetzt ist es wesentlich besser geworden, dadurch, dass die Testergebnisse meistens schon im frühen Kindesalter festgestellt werden. Ja, auticon als Unternehmen ist notwendig. Zwingend notwendig. Leider notwendig. Unser Gründer, der Dirk Müller-Remus, hat einen autistischen Sohn und war durch ihn oft an Selbsthilfegruppen beteiligt. Und da hat er festgestellt, dass es dort einen Physiker, einen Mathematiker, einen Informatiker gibt und alle sind arbeitslos und arbeitssuchend. Und dann hat er gesagt, dass das doch nicht sein kann. Da liegt extrem viel Potenzial brach. Wir haben Fachkräftemangel, gerade im IT Sektor, und hier sind wirklich top ausgebildete Spezialisten, die alle arbeitslos sind. Und das war für ihn der Beweggrund, dass er 2011 auticon gegründet hat. Es ist wirklich eine tolle Sache für unsere Kollegen. Wir sind ja mittlerweile weltweit an die 300 autistische Kollegen. Wir sind in acht Ländern und auf drei Kontinenten und wir werden weiter internationalisieren und expandieren, weil der Bedarf so hoch ist. Ich sage das mal so: Unser Geschäftsmodell ist für die jetzige Zeit extrem gut. Das hört sich jetzt einfach an, aber man muss sich folgendes überlegen: Es gibt einen extremen Fachkräftemangel. Wenn die ganzen Babyboomer in den nächsten Jahren in Rente gehen, fehlen nochmals etliche Millionen an Arbeitskräften. Das sind nicht alles IT-Spezialisten, es gibt auch andere Berufsgruppen. Aber gerade im IT-Sektor fehlen schon extrem viele Spezialisten. Das sind alleine in Deutschland knapp 100.000 IT-Spezialisten, die fehlen. Das Thema der digitale Trend und Unternehmen, das Thema digitale Transformation und Geschäftsmodellanpassung ist ein wichtiges Thema, gerade um in der globalen Welt wettbewerbsfähig zu bleiben. Und das dritte Thema, das seit kurzem – seit einem Jahr ungefähr – ein sehr gewichtiges Thema ist, ist das ganze Thema ESG; also Nachhaltigkeit in Unternehmen. Also das ganze Thema Umwelt, Führung und Soziales. Bisher hat man bei Unternehmen eher das Thema Umwelt fokussiert. Es gibt natürlich Auditfirmen, die darauf spezialisiert sind, wenn so und so viele Mitarbeiter fliegen ist das schlecht für den CO2-Ausstoß und dann gibt es Minuspunkte. Jetzt ist die EU gerade dabei sozusagen die Überprüfung für die Einhaltung der sozialen Standards in Unternehmen festzulegen. Das heißt es kommt da auch ein starker regulatorischer Ansatz dazu. Und alle diese drei Themen – also digitale Transformation, Arbeitskräftemangel im IT Sektor und das Thema Nachhaltigkeit – können wir hervorragend mit unserem Geschäftsmodell anbieten.

 

Marina Herzmayer:    Und wenn ich jetzt sage, ich möchte von den Vorteilen auch profitieren. Denn es hat ja auch sehr viele Vorteile, wie du schon erwähnt hast, mit Autisten zusammenzuarbeiten. Wie gehe ich an diese Sache heran? Gerade wenn ich ein Vorstellungsgespräch habe? Das wird vermutlich besser anders ablaufen, wenn ich es ein bisschen verändere. Wie gehe ich da am besten hinein?

 

Dieter Hahn:               Also es geht eigentlich schon in der Vorbereitung los. Wir nennen unsere Bewerbungsgespräche schon einmal Informationsgespräch. Das hat damit zu tun, dass viele, die eben arbeitssuchend sind und arbeitslos waren, erstmal sehr vorsichtig sind und nicht abgeschreckt werden wollen. Also viele sind da eher eingeschüchtert aufgrund des bisherigen Lebensweges. Deswegen versuchen wir da möglichst weit die Türe aufzumachen und die Stressfaktoren abzubauen. Das geht schon damit los, dass wir auch im Vorfeld einen klaren Ansprechpartner nennen und auch am besten schon genau sagen, wie der Anfahrtsweg ist, wo die Parkmöglichkeiten sind, welche öffentlichen Verkehrswege zu nehmen sind. Um möglichst die Stressfaktoren bis zum Gespräch schon einmal so weit wie möglich zu reduzieren. Das ist extrem wichtig für Autisten. Autisten brauchen einfach eine klare Struktur. Und dann ist es so: Unsere Job-Coaches sind ja in diesem Bereich sehr gut ausgebildet. Da kommt es dann darauf an, wie jemand im Gespräch kommt. Streckt er einem die Hand entgegen, kann man ihm auch die Hand geben. Manche machen das nicht; dann gibt man ihm auch nicht die Hand. Wie ist der Augenkontakt? Gibt es einen direkten Blickkontakt oder schaut jemand eher auf den Boden? Dann passt man sich im Gespräch situativ an. Oder auch bei der Gesprächsführung: klare Fragen stellen, wo kurze Antworten nötig sind; eine klare Struktur im Gesprächsverlauf, wo man dann sozusagen einen roten Faden hat. Das ist sozusagen der beste Weg, ein Informations-/Bewerbungsgespräch mit Autisten zu führen. Wir versuchen also wirklich alle Hemmnisse abzubauen und es möglichst Autisten gerecht zu gestalten.

 

Marina Herzmayer:    Mhm. Damit ich mir das besser vorstellen kann: Die klassischen Fragen, die es bei uns so gibt: „Wo sehen Sie sich in fünf Jahren? Wo sind Ihre Stärken und Schwächen?“ Wie würde das übersetzt dann klingen?

 

Dieter Hahn:               Das ist genau der Unterschied zwischen einer normalen Firma zu uns. Mit solchen Fragen tun sich die meisten Menschen im Autismus-Spektrum extrem schwer. Also das können die meisten so gar nicht beantworten. Deswegen haben wir da eher gezielte Fragen, die auf den Job direkt gemünzt sind. Wir versuchen so herauszufinden, wo jemand herkommt, wo er seine Stärken hat und als erstes auch einmal in gewisser Maßen den Lebenslauf zu hinterfragen. Denn viele unserer Bewerber haben nicht einmal einen richtigen Lebenslauf. Und wenn sie einen Lebenslauf haben, dann sind diese sehr brüchig und lückenhaft. Weil viele eben dann arbeitslos sind. Also die meisten würden gar nicht zu einer Einladung auf ein Bewerbungsgespräch kommen. Und deswegen ist es wichtig, dass es eine auticon gibt, weil wir genau für die Bedürfnisse von autistischen Menschen auch den Bewerbungsprozess jahrelang angepasst und professionalisiert haben, sodass wir möglichst viele Bewerber bekommen.

 

Marina Herzmayer:    Und jetzt habt ihr bei auticon noch eine – wie ich finde – sehr großartige Sache. Du hast es schon angesprochen: diese Job-Caches. Welche Aufgabenbereiche haben die oder wo werden sie genau eingesetzt in der Arbeit und mit der Arbeit von Autisten?

 

Dieter Hahn:               Also die Job-Coaches sind sozusagen eine unserer tragenden Säulen unseres Geschäftsmodells. Die Job-Coaches sind sozusagen der Coach, der unsere autistischen Kollegen im Job coacht. Das ist sozusagen kurz zusammengefasst. Also nicht generell Psychologen, die im privaten Bereich mitunterstützen. Also viele, die einen Therapeuten haben, die brauchen dazu keinen Jobcoach. Es geht wirklich primär darum, wie muss ein Arbeitsplatz beim Auftragskunden gestaltet sein? Auf was muss man Rücksicht nehmen, dass die Stärken unserer autistischen Kollegen sich bestmöglich entfalten können? Es gibt eine Zeit vor Corona und eine Zeit nach Corona. Es hat sich dramatisch verändert. Was einen sehr großen Vorteil für unsere Kolleginnen und Kollegen hat. Vor Corona waren unsere Kollegen zu 85 bis 90 Prozent beim Kunden im Einsatz. Es gab unterschiedliche Ansatzpunkte. Entweder als Externer im Team, wo sie gemeinsam gearbeitet haben. Das war eine gewisse gelebte Inklusion. Jetzt nach Corona ist es so, dass wir 80 bis 85 Prozent komplett remote arbeiten können, was ein Riesenvorteil für unsere Kolleginnen und Kollegen ist, weil dadurch die Stressfaktoren extrem reduziert werden. Viele unserer Kollegen haben gar kein Auto. Die müssen sowieso zum Auftraggeber mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahren. Öffentliche Verkehrsmittel bedeuten immer Unpünktlichkeit, volle Züge, volle Busse, Gerüche … Und das stresst unsere Kollegen extrem. Und jetzt mit der Remote-Arbeit haben wir eine enorme Flexibilität und Stressreduktion für unsere Kollegen. Das funktioniert hervorragend. Das war ja während der Corona-Zeit für viele Unternehmen eine neue Erfahrung. Wird das funktionieren mit den Mitarbeitern, alle im Homeoffice oder mobil? Ich muss sagen, es funktioniert hervorragend. Gerade mit Autisten.

 

Marina Herzmayer:    Wunderbar. Da hat sich zum einen eben das Online-Arbeiten verändert, aber ich glaube, auch wenn man Autisten und Autistinnen im Unternehmen hat, braucht man vielleicht mehr Offenheit, Verständnis, Vertrauen, dass die ihre Arbeit machen?! Wie kann man sich so den Arbeitsalltag vorstellen? Ich glaube, das ist nicht so: Um 09:00 Uhr komme ich, setze mich an den Schreibtisch und um 17:00 Uhr gehe ich wieder nachhause, oder?

 

Dieter Hahn:               Eher weniger. Genau. Also was die Arbeitszeiten betrifft, benötigt es auch eine gewisse Flexibilität. Die meisten Unternehmen haben 9 to 5; die ganz normalen Kernarbeitszeiten. Es gibt aber auch Kollegen, die nachts aktiv sind und da die beste Konzentration haben. Also wir haben sogar Kollegen bei uns aus Amerika in einem deutschen Projekt gehabt, mit zehn Stunden Zeitverschiebung. Auch das hat hervorragend funktioniert. Gerade wenn es Remote-Arbeit ist, ist das eine super Sache. Aber um noch einmal auf das Thema „Jobcoaches“ zurückzukommen: Wie funktioniert es am besten bei den Unternehmen? Also es ist so: Bei unseren Bewerbungsprozess gibt es auch eine Erarbeitung. In einer Vorbereitungsphase werden Profile von unseren Kolleginnen und Kollegen erarbeitet. Also: Wo hat jemand seine Stärken? Auf was muss man achten? Ist jemand lichtempfindlich? Möchte jemand nicht, dass man ihm die Hand schüttelt? Augenkontakt/Blickkontakt? Wo sind die painpoints – also wo sind Punkt, die man unbedingt vermeiden sollte, um Stress zu reduzieren? Und dieses Profil, das wir von jedem Mitarbeiter haben, ist auch Grundlage für das Briefing vom Job-Coach beim Kunden. Also in dem Fachbereich oder in dem Team, wo unsere Kollegin oder unser Kollege in den Einsatz oder in das Projekt geht, gibt es erst einmal eine allgemeine Erläuterung zum Thema Autismus und dann geht man speziell auf die Kollegin oder den Kollegen ein, auf was man da achten muss. Und bisher waren wirklich alle Unternehmen sehr Autisten-freundlich und sehr engagiert, was das Thema Arbeitsplatzgestaltung betrifft. Man hat sich immer sehr viele Gedanken gemacht. Denn viele große Unternehmen haben ja heute keine Einzelbüros mehr; was natürlich am besten wäre. Sondern die haben Großraumbüros oder open-space Flächen. Aber jeder Kunde hat eigentlich immer irgendwie eine Möglichkeit gefunden, jemanden nicht mitten hineinzusetzen sondern hat zumindest eine ruhigere Ecke gefunden, ohne dass er irgendwie ausgegrenzt ist. Das wollen viele unserer Kollegen und Kolleginnen natürlich auch nicht; aber eine ruhigere Ecke. Das witzigste, das ich einmal erlebt habe, war bei einer Großbank. Die hatten einen Krisenraum – einen Bunker. Und da hat unser Kollege gearbeitet und es war perfekt [lacht].

 

Marina Herzmayer:    [Lacht] Also ich persönlich verstehe das ja wunderbar; gerade in Großraumbüros. Es fasziniert mich immer noch, wie Menschen da arbeiten können. Aber das heißt, diese Job-Coaches sind in Wirklichkeit Dolmetscher und die Schnittstelle zwischen Autist/Autistin und der Berufswelt.

 

Dieter Hahn:               So kann man das sagen. Genau. Man muss auch dazu sagen, dass der Job-Coach jetzt nicht die ganze Zeit neben dem Autisten/der Autistin sitzt und dabei ist. Sondern wenn Bedarf ist oder wenn es Situationen gibt, wo man jetzt Gesprächsbedarf hat, dann greift man zum Hörer und telefoniert oder skyped mit dem Job-Coach. Und wenn es irgendwelche anderen Situationen gibt, von denen man sagt, dass man das vor Ort klären müsste, kommt der Job-Coach natürlich vor Ort. Also das ist eher bedarfsorientiert. Aber es ist nicht so, dass der Jobcoach zwingend immer vor Ort sein muss. Unsere Kolleginnen und Kollegen entwickeln sich ja auch. Also wenn jemand am Anfang extrem introvertiert und schüchtern war und jetzt merkt, dass er die Fähigkeiten entfalten kann, wo dann unsere Auftraggeber und die Unternehmen sagen: “Wow, das ist ja Wahnsinn! Der ist ja extrem schnell und liefert eine extrem hohe Qualität ab, das ist Wahnsinn! Wir kommen gar nicht mehr hinterher, dem die Arbeit zu geben.“, dann blühen die auch auf und gewinnen Selbstsicherheit. Das ist wirklich gelebte Inklusion. Das muss man sagen. Ich hatte zum Teil manchmal ein bisschen Angst, dass es vielleicht so – wie soll ich sagen – einen gewissen Neidfaktor geben könnte oder es zu Verunsicherung im Team oder in der Fachabteilung kommt, wo die Kollegen dann arbeiten, weil die extrem schnell sind. Und dann könnte vielleicht irgendein Vorgesetzter oder eine Führungskraft das schon hinterfragen: Wieso kann der in viel weniger Zeit viel mehr leisten als die anderen? Aber das war noch nie so. Also wir hatten da noch nie Bedenken oder Äußerungen oder Ängste in den Teams oder in den Fachbereichen. Das war eher immer so: „Hey, das ist unser Autist. Und wir sind froh, dass wir den haben!“ Denn ein Autist im Team kommt immer von einer anderen Perspektive. Also wir sind ja die klassischen top-down-Denker. Wir kommen vom großen Ganzen und irgendwo mittendrin bei der Problemstellung bleiben wir stecken. Wir gehen nicht auf die Detailebene, nur ganz ausnahmsweise. Autisten sind bottom-up-Denker. Die kommen von der Detailebene. Und deswegen ist es extrem ratsam, dass man bei Teams mit einer Größe von 6 bis 10 Leuten eigentlich einen Menschen mit Autismus-Spektrum im Team haben sollten. Denn autistische Menschen gehen ganz anders an die Problemlösung heran. Und nur so kann man vielleicht wirklich komplexe Probleme lösen. Es nützt nichts, wenn ich drei weitere Nicht-Autisten einstelle; die gehen trotzdem mit demselben Denkschema an das Problem heran. Und Autisten denken da eigentlich ganz anders.

 

Marina Herzmayer:    Wir haben jetzt sehr viele positive Aspekte gehört. Es gibt keine Firma ohne Struktur in der Autisten und Autistinnen drinnen sind. Dann, was mir sehr wichtig ist, und ich denke das ist ja auch bei Nicht-Autisten und Nicht-Autistinnen sehr wichtig, dass man auf die Stärken schaut. Das ist ja für jedes Unternehmen glaube ich ein Vorteil, wenn es allgemein auf diese Bereiche geht. Was hast du in den ganzen Jahren für dich persönlich gelernt?

 

Dieter Hahn:               Also ich sage es einmal so: Für mich war wirklich so ein Aha-Erlebnis, dass es sehr logische Menschen sind, die sehr strukturiert an Themen herangehen. Das ist extrem; auch sehr lehrreich. Autisten haben, muss ich schon fast sagen, einen angeborenen Qualitätssinn. Es wird kein Thema geben, wo ein Autist über eine Präsentation geht und nicht irgendwo einen Fehler findet. Egal wie oft da schon jemand drübergelesen hat. Das geht schon los mit irgendwelchen Werbeprodukten, wo man sagt, die sind vielleicht nicht so qualitativ verarbeitet, wie das derjenige sich vorstellt. Auf der anderen Seite ist das sozusagen unsere Stärke und auch unser USP gegenüber unseren Kunden. Also wir haben große Kunden, große Konzerne, die natürlich – wir kommen ja vom klassischen testing – Vergleiche gemacht haben mit anderen Dienstleistern, wo festgestellt worden ist, dass unsere Kollegen in der halben Zeit doppelt so viele Fehler gefunden haben. Und die müssen sich nicht einmal anstrengen. Also sie haben ein Fehlererkennungs-System. Sie müssen keine Fehler suchen, sondern die Fehler gehen einfach direkt ins Auge. Sie müssen sich nicht anstrengen. Da gibt es verschiedene Testverfahren, mit denen wir das testen. Das können wir auch immer belegen. Und das sind natürlich Themen, wo ich sage, wenn es um Softwaretesting geht, oder um gewisse Fehlererkennungen, Datenanalytik, Sicherheitsthemen oder auch saubere Programmcodes entwickeln, cleancoding, das ganze Thema strukturiert anzugehen, liefern Autisten die besten Ergebnisse. Und das ist ein Thema, von dem ich sage, das kenne ich so in der Form nicht. Sonst gilt immer die Pareto-Regel: 80 Prozent müssen reichen und die letzten 20 Prozent gehen schon. Das ist mit Autisten sehr schwierig, weil sie eben so einen hohen Qualitätsanspruch haben. Und was mich besonders gefreut hat ist, dass autistische Menschen, bevor sie zu auticon gekommen sind, oft sehr defizitär wahrgenommen und behandelt werden. Durch das Wirken von auticon und durch den Einsatz von Job-Coaches, auch Projektmanagern bei uns, und die Rahmenbedingungen bei den Kunden, dass die so gemanagt werden, dass die ungestresst ihre Stärken entfalten können … Das bringt wirklich auch so ungeschliffene Diamanten zum Vorschein, die dann richtig aufblühen. Wir haben erst jetzt wieder sehr viele neue Kollegen eingestellt, die sind zum Teil frisch vom Studium, haben eine sehr hohe IT-Affinität, wo die Kunden sagen: „Wow, das ist der Wahnsinn, was die leisten, in welcher Zeit und mit welchem Qualitätsanspruch!“ Ich habe jetzt noch keinen Kunden gehabt, der gesagt hätte: „Das war nix.“ Also durch diesen Qualitätsanspruch – und der ist wirklich schon angeboren – können wir die besten Ergebnisse für unsere Kunden erzielen. Und das ist ein schönes Thema. Das ist für mich so eine Erkenntnis. Und auch die direkte Kommunikation mit autistischen Menschen. Unsereins legt sehr viel auf die Goldwaage, man möchte dem anderen nicht schaden, man versucht irgendwie den Takt einzuhalten auch wenn es einen vielleicht ärgert … bei Autisten ist das ganz unemotional. Einfach die Sachen direkt adressieren, ganz klar. Das würden die nie persönlich nehmen. Das ist eher das Problem von uns dann, weil Autisten eben Sachen direkt adressieren, wo man sagt, man könnte dann beleidigt oder angegriffen sein. Aber wenn man eben weiß, dass das ein Autist ist, der das nicht böse meint, sondern dem es um die Sache geht, rein um die Logik – Problem erkannt, Problem gelöst – dann ist demjenigen auch egal, welche Hierarchiestufe derjenige hat. Das ist mit ein Karrierehinderungsgrund, dass Autisten extrem wahrheitsliebend sind, einen extremen Gerechtigkeitssinn haben und sehr direkt sind. Das muss man sagen. Und damit können Menschen wie wir oft gar nicht richtig umgehen. Und deswegen ist es so wichtig, dass es eben so ein Unternehmen wie auticon gibt, weil wir darauf ausgerichtet sind und auch das Knowhow in die Unternehmen mehr und mehr hinein bringen; und schaffen mehr und mehr Bewusstsein in den Teams und versuchen da eben das Thema Toleranz und Diversität nach vorne zu treiben.

 

Marina Herzmayer:    Und genau das ist glaube ich das wichtige beim Thema Inklusion, dass man genau diese Vorurteile und dieses Unwissen eliminiert oder dem entgegenwirkt. Und da habe ich auch bei euch etwas Tolles gesehen. Ihr arbeitet mit Workshops mit anderen Firmen, um das Thema Autismus und alles, was dazugehört näher zu bringen. Wie wird das angenommen? Wie gehen andere Firmen mit dem Thema Inklusion und eben Autisten/Autistinnen um?

 

Dieter Hahn:               Nachdem wir ja schon ein paar Jahre jetzt am Markt sind, merkt man, dass immer mehr Bewusstsein in Unternehmen ist. Was bei uns jetzt ganz neu ist, ist, dass wir Trainings und verschiedene Trainingsmodule anbieten; von einer awareness session, wo man möglichst viele Teilnehmer im Unternehmen haben kann – das ist kostenfrei zum Beispiel – wo wir anbieten, um auf das Thema Autismus vorzubereiten, zu sensibilisieren. Aber nicht nur das Thema Autismus, sondern generell das Thema Neurodiversität. Also Inklusion bedeutet nicht nur Autismus, sondern auch das ganze Thema ADHS, Dyskalkulie und da gibt es noch viele mannigfaltige andere Themen. Wo man sagt, es sind ja Menschen in einem Unternehmen, die ja alle irgendwie ein Thema haben … oder fast alle. Und da ist es sehr hilfreich, wenn man darauf eben dann vorbereitet und ein Bewusstsein schafft. Was jetzt noch neu dazukommt ist das ganze Thema Strategieberatung. Also wir haben jetzt auch vermehrt Anfragen von Firmen, die sagen: „Lieber Herr Hahn, liebe auticon! Wir möchten gerne mit Ihnen ein Assessment durchführen um festzustellen, was bei uns der Status quo ist. Also sind wir behindertengerecht aufgestellt? Sind wir neurodivers aufgestellt? Können Sie bitte einen Status quo feststellen.“ Wir haben extra ein Assessment-Tool, wo wir in Unternehmen hineingehen und Interviews mit verschiedenen Abteilungen führen, wie der Personalabteilung, mit den Fachbereichen, mit verschiedensten Mitarbeitern, allen relevanten Stakeholdern und da gibt es dann sozusagen ein Ergebnis oder ein Resultat, welches dann mit den Kunden besprochen wird. Und daraus kann man dann auch relativ gut Quick Wins ableiten. Wo man sagt ok, was sind die Maßnahmen, die wir jetzt als nächstes angehen wollen? Das ist sehr modular aufgebaut. Also es ist sehr customized von unserer Seite: Was ist dein Bedarf? Was können wir dir anbieten? Das geht wie gesagt von der Strategieberatung bis hin zu verschiedenen Trainingsmodulen zum Thema Neurodiversität und eben auch gelebte Inklusion, indem wir sagen, wir haben auch den ein oder anderen Kollegen/Kollegin, die dich sozusagen bei IT-Projekten unterstützen könnten. Dann wisst ihr gleich selber, wie das funktioniert und könnt das gleich anwenden. Das ist sozusagen die Vorgehensweise. Und das hat den Hintergrund, dass wir möglichst viel Impact in die Gesellschaft bringen wollen. Wir haben auch Gesellschafter, denen das sehr wichtig ist … was gut ist. Dass man sagt, was ist der Input? Was ist durch unser Wirken der positive Einfluss auf die Gesellschaft auf autistische Menschen? Und deswegen werden wir das jetzt verstärkt fokussiert angehen, dass wir sagen, wir wollen noch mehr awareness schaffen; wir wollen noch mehr Aufklärung betreiben und auch Firmen dabei helfen, besser mit dem Thema Neuro-Inklusion umzugehen.

 

Marina Herzmayer:    Das heißt, wenn man wirklich offen darüber spricht, dann ist die Bereitschaft im Arbeitskontext definitiv vorhanden. Wenn ich das so richtig interpretiere?

 

Dieter Hahn:               Ja. Es wird auch immer wichtiger. Also man muss wirklich feststellen – ich habe es vorhin auch schon einmal kurz erwähnt – das ganze Thema Arbeitskräftemangel, Babyboomer gehen in Rente … Es ist mittlerweile glaube ich sehr klar erkannt bei den meisten Unternehmen, dass wir hier extrem gute Talente haben, die bisher ungenutzt waren. Und die gilt es jetzt zu nutzen. Und dafür bereiten wir sozusagen den Weg um das Verständnis bei Unternehmen zu verbessern.

 

Marina Herzmayer:    Dieter, zum Abschluss würde ich noch gerne wissen: Was begeistert dich am Allermeisten bei deiner Arbeit bei auticon und hast du dann noch Wünsche für deine Zukunft bei auticon?

 

Dieter Hahn:               Das ist eine interessante Frage. Das ist gar nicht so einfach zu bewältigen, weil der Job so vielfältig ist. Und deswegen macht er auch so viel Spaß. Ob das jetzt Bewerbungsgespräche sind, ob das jetzt Kundenakquisationsgespräche sind … wir haben ja mittlerweile sehr viele große Kunden, Bestandskunden, die schon langjährig mit uns zusammenarbeiten. Es geht in strategische Überlegungen hinein. So wie jetzt eben mit den Neuroinklusion-Services und Strategieberatungen und Trainings. Aber was am meisten bei mir immer noch mithängenbleibt sind wirklich inspirierenden Gespräche mit den Kolleginnen und Kollegen. Und es gab auch wirklich schon irrwitzige Situationen, auch bei den Kunden. Und das bleibt einfach hängen. Und das erfreut mich, muss ich wirklich sagen. Das mach uns Spaß. Also ich habe wirklich Spaß an der Arbeit. Dieser Faktor ist nicht ganz unwichtig. Und was wünsche ich mir für die Zukunft? Ja, für die Zukunft wünsche ich mir, dass das Tun und das Wirken von auticon noch mehr das Thema awareness oder Bewusstsein bei Unternehmen und in der Gesellschaft sozusagen gestärkt wird. Da sind wir noch lange nicht da, wo wir sein wollen. Da haben wir bestimmt noch einen langen Weg. Aber ich denke einmal, wir sind auf dem richtigen Weg. Man merkt jetzt schon auch aufgrund der vielen Anfragen von Unternehmen und Firmen, dass da schon ein großer Bedarf für diesen Bereich herrscht. Es ist wirklich schön, wenn man sich überlegt, dass 85 Prozent der autistischen Menschen arbeitslos sind, die dann bei uns einen Job haben, ihre Stärken ausspielen können und sozusagen ein eigenes Einkommen haben, sich selber eine Wohnung leisten können – was vorher oft nicht der Fall war und bei den Eltern gewohnt wurde. Das ist dann schon sehr herzerfrischend. Das macht dann richtig Spaß, wenn man sagt, dass es ein sinnstiftendes Arbeiten ist, bei auticon. Und das ist glaube ich ein wichtiger Punkt. Und ich denke einmal auch, dass jetzt auch die Generation Y, die jungen Menschen, oft sich auch Firmen aussuchen, wo sie sagen, sie wollen auch in Unternehmen arbeiten, die eine sinnstiftende Arbeit haben oder einen Nachhaltigkeitseffekt. Also ich glaube, dass Firmen und Unternehmen sich auch dahingehend Gedanken machen müssen, auch wegen Arbeitskräftemangel: Wie kann ich denn neue Menschen rekrutieren? Also nur noch zu sagen, wie zu meiner Zeit: tolles Gehalt, Firmenwagen … das zieht heute nicht mehr. Heute wollen die Menschen eine sinnstiftende Arbeit haben und durch ihr Wirken einfach sagen: „Ja, das ist eine zufriedenstellende Arbeit. Ich gehe nachhause und mir geht es gut.“

 

Marina Herzmayer:    Vielen herzlichen Dank für diesen wirklich absolut positiven Input. Danke sehr!

 

Dieter Hahn:               Herzlichen Dank, Marina! Ich danke und wünsche euch einen schönen Tag und bis bald!

 

[Musik]

 

Marina Herzmayer:    Herzlichen Dank an alle Zuhörerinnen und Zuhörer. Wenn euch der Podcast gefallen hat, bewertet ihn bitte auf Apple Podcast oder Spotify. Und wenn ihr der Meinung seid, diese Folgen sollten mehr Menschen zu hören bekommen, dann empfehlt unser Format gerne weiter.

 

[Musik klingt aus]