Markus Hengstschläger ist 53 Jahre alt, Humangenetiker, Universitätsprofessor, Bestsellerautor und vielen auch als Radiodoktor bekannt. Neben großartigen wissenschaftlichen Entdeckungen fordert er auch immer wieder: „Unsere Gesellschaft braucht mehr Freaks.“ Durch das Gespräch führt Marina Herzmayer. Dieser Podcast wird präsentiert vom Bundesministerium für Arbeit und Wirtschaft.
Markus Hengstschläger ist 53 Jahre alt, Humangenetiker, Universitätsprofessor, Bestsellerautor und vielen auch als Radiodoktor bekannt. Neben großartigen wissenschaftlichen Entdeckungen fordert er auch immer wieder: „Unsere Gesellschaft braucht mehr Freaks.“ Durch das Gespräch führt Marina Herzmayer.
Dieser Podcast wird präsentiert vom Bundesministerium für Arbeit und Wirtschaft.
[Intro-Musik]
Marina Herzmayer: Mein heutiger Gast ist Markus Hengstschläger. Er ist 53 Jahre alt, Humangenetiker, Universitätsprofessor, Bestsellerautor und vielen auch als Radiodoktor bekannt. Neben großartigen wissenschaftlichen Entdeckungen fordert er auch immer wieder: „Unsere Gesellschaft braucht mehr Freaks.“
Mein Name ist Marina Herzmayer und ich führe heute durch dieses Gespräch.
[Musik]
Marina Herzmayer: Lieber Herr Hengstschläger, danke für Ihre Zeit! Schön, dass Sie da sind heute und dass wir zu Ihnen kommen durften.
Hengstschläger M.: Herzlich Willkommen am Institut für medizinische Genetik der medizinischen Universität Wien! Wir sind jetzt hier in meinem Büro und es ist leider so, wenn hier Leute und aktuell auch die Studierenden vorbeigehen, dass wir das ein bisschen hören werden in diesem Podcast … aber schauen wir mal.
Marina Herzmayer: Ihr Interessens- und Forschungsgebiet im Bereich der Genetik ist ja sehr breit gefächert. Ich freue mich, dass wir heute einen kleinen Schwerpunkt auf unsere Lebensspanne legen dürfen und auf alle Möglichkeiten, die wir genau in dieser Zeit dazwischen haben. Dafür würde ich sagen, wir starten einmal ein bisschen früher und gehen ein paar Jahre zurück in Ihre Jugendzeit. Wie würden Sie sich denn beschreiben? Wie waren Sie als Jugendlicher?
Hengstschläger M.: Ahm, ich glaube, dass es etwas gibt – und je älter ich werde umso mehr denke ich über das nach – dass dieser unglaublichen Vorteil, den ich in der Jugend hatte, wahrscheinlich auch viel von dem ausgemacht hat, was mir dann irgendwie im Laufe meines späteren Lebens passiert ist. Ich bin der Sohn einer Lehrerin und eines Universitätsprofessors und bei uns zuhause war das Thema Bildung und sich permanent am neuesten Stand zu halten und zu informieren von vorneherein immer ein riesiges Thema. Und daher glaube ich eigentlich auch, dass die Chancen, dass ich sozusagen in irgendeine Richtung oder in diese Richtung gegangen bin, sehr hoch waren. Und das verdanke ich im Wesentlichen meinen Eltern. Und wenn ich jetzt an meine Jugend denke, denke ich immer daran, dass hoffentlich viele, viele, viele Kinder auch solche Chancen haben, wie ich sie gehabt habe.
Marina Herzmayer: Sie hatten auch ein sehr spannendes Kapitel in Ihrer Jugendzeit: Sie waren ein Punk. Sagen wir es so wie es ist. [lacht] Sie haben Punk-Musik sehr gerne gemocht und ich habe von Ihnen schon einmal gelesen, dass Sie auf „den Schaden, den Sie dadurch davongetragen haben“, sehr stolz sind.
Hengstschläger M.: [lacht]
Marina Herzmayer: Was genau konnten Sie aus dieser Zeit mitnehmen?
Hengstschläger M.: Also dazu muss man sagen, diese Jugendbewegungen … Wie ich in Linz groß geworden bin, gab es verschiedenste Jugendbewegungen und ich hab so manches ausprobiert … so ist es nicht. Unter anderem habe ich mich auch vielleicht ein bisschen als Punk verkleidet. Das unterscheide ich immer klar von dem, ob jemand ein Punk ist oder ob sich jemand ein bisschen so anzieht als wäre er einer. Ich habe da eher zu den Zweiteren gehört. Das mit der Musik stimmt, das ist schon wahr. Es gab einmal eine Zeit, da hat mir das sehr gut gefallen. Wenn ich es mir heute anhöre, zB die Sex Pistols oder was auch immer, dann bin ich darüber erstaunt, aber es war so.
Marina Herzmayer: [lacht]
Sie sagen ja selbst, und ich habe es vorher auch angemerkt: „Wir brauchen mehr Freaks in der Gesellschaft.“ Sie fordern also quasi das Abweichen von der Norm. Waren Sie selbst so jemand? Wie soll das aussehen? Wie stellen Sie sich einen Freak vor?
Hengstschläger M.: Also ich habe ja diesen Begriff „Freak“ auch immer mit dem Begriff „Peak“ kombiniert. Ich muss das ein bisschen erklären, wie ich das meine; vielleicht haben da andere Leute andere Vorstellungen. Aber für mich ist es so: Jetzt bin ich ein Wissenschaftler geworden und das bedeutet natürlich, dass man von Wissenschaftlern nicht erwartet, dass sie das machen, was es schon gibt. Von Wissenschaftlern erwartet man nicht, dass sie das denken, was man schon weiß und von Wissenschaftlern erwartet man auch nicht, dass sie das schreiben, was schon geschrieben ist. Sondern es ist in der Wissenschaft die Aufgabe zu sagen, ich probiere einmal einen anderen Ansatz; ich gehe einmal über etwas drüber; ich versuche einmal etwas, das noch niemand versucht hat. Und das ist ja das Unglaubliche an der Wissenschaft: Man strebt permanent nach seiner ganz persönlichen individuellen Mondlandung und man sagt, dass man morgen oder übermorgen wieder einmal etwas tun möchte, das noch nie jemand getan hat. Und um das tun zu können, braucht man so eine Grundeinstellung, die besagt, dass es nicht das sein muss, was alle tun; sondern es muss auch das möglich sein, was wenige tun oder vielleicht jetzt einmal nur ich tue. Da könnten wir uns jetzt viel darüber unterhalten. Aber das beschreibt das, was ich mit „Freak“ meine … Innovation, Neuland betreten, Grenzen überschreiten, seine Komfortzone verlassen … das sind so die Dinge. Und wenn man dabei noch ein „Peak“ ist, dh wenn man dabei noch eine Spitzenleistung zusammenbringt, dann ist das für mich der Idealfall. Wenn man sagt, dass man gerne etwas Neues machen möchte und dabei besonders gut sein möchte, dann ist es diese Kombination aus „Freak“ und „Peak“. Und genau das wünsche ich der Gesellschaft in einem entsprechenden Ausmaß, weil wir – um eine innovative Gesellschaft sein zu können – das brauchen wie ein Stück Brot.
Marina Herzmayer: Würden Sie in dem Fall selbst sagen, dass Sie so jemand sind … „Peak“ und „Freak“?! [lacht]
Hengstschläger M.: Ich wäre gern einer! [lacht]
Ich glaube die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind auch so gestrickt, dass sie dazu bereit sind, dieses Neuland zu betreten. Wer einen neuen Weg gehen will, der muss zuerst einmal den alten verlassen. Das vergisst man immer ganz gerne dabei. Das funktioniert nämlich sonst nicht so ganz. Daher funktionieren Aussagen wie „Das hat sich bewährt.“, „Das haben wir immer schon so gemacht.“, „Das machen die meisten bzw. die Mehrheit so.“ halt einfach nicht, denn das ist der eine Weg. Aber um einen neuen zu gehen, muss ich den einmal verlassen.
Marina Herzmayer: Mhm. Und wie sind Ihre Eltern mit Ihnen umgegangen, als Sie einen kleinen anderen Weg in Ihrer Jugend gewählt haben?
Hengstschläger M.: Ja also … natürlich ist auch eine Komponente meiner Jugend gewesen, dass ich sehr viel Freiraum hatte. Ich glaube, wenn ich das mit anderen jungen Menschen aus meiner Zeit damals vergleiche, dann war das auch auffallend, dass ich relativ viel Freiheit hatte und auch vieles ausprobieren konnte, was das Spektrum erweitert. Und ich bin heute noch der Meinung, wenn man sich auf die Suche nach seinen eigenen Interessen, Talenten, Begabungen bis hin zu seinen Zielen, die man sich setzen will, begibt, dann hilft es, wenn man ein großes Spektrum abklopfen kann. Und was mir meine Eltern schon ermöglicht haben ist, ein großes Spektrum zu sehen.
Marina Herzmayer: Also ihnen wäre ein „Durchschnittskind“ nicht lieber gewesen?
Hengstschläger M.: Meinen Eltern?
Marina Herzmayer: Mhm.
Hengstschläger M.: Ahm … ich glaube eigentlich nicht. Wobei da müssten Sie jetzt meine Eltern – also meine Mutter ist schon verstorben – aber meinen Vater fragen. Aber ich glaube nicht, dass ihnen ein Durchschnittskind lieber gewesen wäre. Aber ich bin jetzt auch nicht so überzeugt … Bei ganz, ganz vielen Dinge bin ich sozusagen ja auch Durchschnitt, so wie jeder Mensch. Ich vertrete die Position, dass jeder Mensch Elite ist, nur jeder ist es woanders. Und wir müssen sehr vorsichtig sein beim bewerten dessen, was die Menschen machen. Denn ich glaube, dass es so unglaublich viele coole Dinge gibt auf dieser Welt, die nicht ganz so bewertet sind – von der Wertschätzung her – wie andere Dinge. Und daher glaube ich, jede und jeder ist in irgendetwas Elite und im Rest vielleicht Durchschnitt.
Marina Herzmayer: Was würden Sie sagen wäre ein Tipp an Eltern oder vielleicht auch an Menschen, die mit Kindern arbeiten wie zB Pädagoginnen und Pädagogen? Wie geht man am besten mit Kindern um, wenn man zB merkt, dass die nicht ganz in der Norm sind, so wie wir sie uns vorstellen?
Hengstschläger M.: Naja, ich drehe jetzt den Spieß einmal um. Ich meine, wir sollten einmal mit denen gezielt umgehen, die in der Norm sind. Damit wir die sozusagen von der Norm einmal ein bisschen in Richtung Neuland, Innovation, Kreativität und neue Ideen bringen. Ich habe eine große Sorge, und das ist die Sorge … Wir machen uns um viele Begabungen und Talente von Kindern viele Gedanken und die wollen wir fördern. Wir wollen natürlich die Kinder in ihrer Selbstentfaltung unterstützen und wollen ihnen die Chance geben, ihre Interessen und Talente auch zu finden. Das ist auch deshalb besonders wichtig, weil wir aus der psychologischen Forschung wissen, dass der Mensch nicht sehr gut darin ist, sich selbst einzuschätzen. In der Psychologie spricht man da von blind spots und von Dingen, von denen man sagt, dass man das von sich selbst gar nicht kennt. Und es gibt übrigens viel Tricks die ich auch immer wieder ein bisschen diskutiere … also ob man nicht einmal versuchen sollte, ob man sich zur Zeit gut und richtig einschätzt und was die anderen, das Vis-á-Vis, dazu sagen. Daher: Ja, es brauchen Kinder ein Gegenüber und Hilfe bei der Entwicklung. Und wenn man das jetzt unterstützen will, dann glaube ich ist die Frage, wo man hinmöchte. Man kann natürlich sagen, dass es da eine Begabung gibt … Und darüber sollten wir vielleicht sprechen, was ich als Genetiker unter dem Begriff Begabung verstehe. Wobei ich schließe mich ja eh der wissenschaftlichen Meinung an, aber das ist ja auch genau das Thema, warum ich als Genetiker darüber spreche. Vorweg einmal: es gibt sportliche, logisch-mathematische, sprachliche Begabungen etc. Und jetzt kann man sagen, dass man dieses oder jenes fördern möchte. Ich glaube, dass es eine Begabung gibt – und das ist eigentlich die Wichtigste wenn es darum geht, Neuland zu betreten und um Innovation … also wenn es um „Peaks“ und „Freaks“ geht … – die nenne ich Lösungsbegabung. Und da glaube ich, schaut es so richtig schlecht aus, wenn es um die Förderung geht. Und wenn man mich jetzt fragt, wie ich das in Österreich sehe und was ich da für Tipps geben würde, würde ich sagen, dass wir uns einmal wieder oder so richtig um diese Begabung kümmern sollten! Das wäre einmal ein ganz, ganz guter Einstieg. Denn dann können alle anderen Begabungen dafür verwendet werden, nicht nur das zu machen, was es schon gibt. Sondern in Kombination mit dieser übergeordneten Begabung, kann jede Begabung etwas machen, was es noch nicht gibt … nämlich eine neue Lösung oder einen neuen Ansatz ausprobieren. Also eine sportliche Begabung kombiniert mit Lösungsbegabung oder eine musikalische Begabung kombiniert mit Lösungsbegabung usw führt erst zu dem, dass man etwas tut, was es noch nicht gibt. Daher halte ich das für das Wichtigste. Und jetzt müssen Sie mich fragen – da bleibt Ihnen nichts anderes übrig – „Was ist das?“ und „Wie fördert man das?“. [lacht] Da bleibt Ihnen jetzt nichts anderes übrig, weil sonst werde ich es jetzt irgendwie … also bitte fragen Sie mich das oder ich antworte Ihnen jetzt einfach [lacht]
Marina Herzmayer: [lacht] Ich wollte ohnedies gleich ein Praxisbeispiel hören [lacht]
Hengstschläger M.: [lacht]
Also zuerst einmal: eine Begabung ist ein Potential. Mehr nicht, aber auch nicht weniger. Es gibt immer noch zu oft fälschlicher Weise die Meinung, dass man ein Talent entweder hat oder nicht. Wenn ich dann frage, wo man das denn hat, wenn man es hat oder wo man es nicht hat, wenn man es nicht hat, dann gibt es immer noch viele Menschen die geneigt sind zu sagen: „Das ist doch dein Fach.“, „So etwas ist angeboren.“, „Das hat man von den Eltern geerbt, da kannst nix machen.“ oder „So etwas ist genetisch.“. Dazu ist zu sagen: Ja, Gene spielen ein Rolle bei Begabungen. Das soll man auch nicht wegdiskutieren; das ist etwas, das ein Faktum ist. Aber die Gene sind auch nur ein Teil. Denn Begabungen sind ein Potential … eine Veranlagung, eventuell etwas machen zu können. Wenn ich dieses Potential aber nicht erkenne und nicht durch harte Arbeit und Wissenserwerb und durch üben, üben, üben immer wieder weiter fördere, dann kommt keine besondere Leistung heraus. Das gilt für eine musikalische Begabung genauso wie für eine sportliche Begabung und für alle Begabungsgruppen, die wir kennen.
Marina Herzmayer: Man spricht ja immer von den 10.000 Übungsstunden, um ein Meister bzw. eine Meisterin zu werden.
Hengstschläger M.: Ja, Sie sprechen da eine sehr berühmte These an, wo der Genetiker aber jetzt etwas dazu sagt: Wenn Sie sagen, jeder Mensch kann nach 10.000 Stunden die Beste oder der Beste in etwas werden, dann sagt Ihnen der Genetiker darauf: „Ich hätte 10.000 Stunden lang Klavier und Gitarre üben können, „Let it be“ wäre nie von mir gewesen.“ Es ist also die Kombination. Der Mensch ist auf seine Gene nicht reduzierbar. Gene sind Bleistift und Papier, die Geschichte schreiben wir selbst. Dh aber trotzdem, dass Gene eine Rolle spielen. Aber nur wenn diese Veranlagungen dann eben auch richtig gefördert werden, kommt etwas heraus. So und jetzt der Punkt mit der Lösungsbegabung: Die Lösungsbegabung ist jene Begabung, wie der Mensch…- Und da ist der Homo Sapiens unglaublich talentiert. Keine Spezies auf diesem Planeten hat jemals so viele Lösungen für Probleme gefunden. Denken Sie nur ganz aktuell: die digitale Transformation wird diskutiert, künstliche Intelligenz wird diskutiert. Das ist zurzeit ein großes Leitthema, welches wir haben. Lösungen für Dinge, wo wir noch keine Lösungen hatten; mRNA-Impfstoffe … das sind alles Lösungen, die der Mensch finden kann. Aber gerade bei einer Lösungsbegabung ist das Üben, also dieser Umweltfaktor – Gene + Umwelt führen dann zum Erfolg – aus meiner Sicht zurzeit nicht wirklich richtig gefördert. Wenn ein Kind ankommt und sagt, dass es ein Problem hat und wir kennen die Antwort, dann sagen wir ihm die Antwort und sagen ihm wie er oder sie es machen soll; das Kind dreht sich am Stand um und geht. Beim nächsten Problem, das es hat, ist der erste Gedanke, dass das Kind zu jemanden geht, der die Antwort kennt. Das ist ungefähr so sinnvoll, wenn wir ein Leben lang der nächsten Generation den Lösungsfindungsprozess abnehmen, wie wenn man der nächsten Generation 20 Jahre lang Klavier vorspielt und sich dann wundert, dass diese Generation nicht gut Klavierspielen kann. Und wenn wir jetzt weiter so machen, dass wir sagen, dass wir für Lösungsfindungsprozesse keine Zeit haben (weil dann Schmutz in der Küche ist oder sich jemand verletzt oder das jetzt stressig ist) und dem Kind sagen, wie etwas geht, dann kann man am Ende des Tages auch nicht erwarten, dass dieses Kind seine Lösungsbegabung perfektioniert und geübt hat. Ich finde, dass das Üben von Lösungsfindungsprozessen das wichtigste ist. Gerade in Zeiten wie diesen, in denen wir sagen, dass Linearität gerade von der Exponentialität vom Tisch gefegt wird, und zwar nicht durch ein Virus, sondern durch digitale Transformation … da geht es vielmehr darum, was wir mit all dieser Information machen. Wie kommen wir zu neuen Lösungen? Da sollte man gut sein, gut geübt haben und seine Lösungsbegabung perfektioniert haben. Das baucht man sein ganzes Leben lang. Man muss es übrigens auch sein ganzes Leben immer wieder weiter üben. Und wenn wir jetzt an die großen Herausforderungen denken wie den Klimawandel, eine Pandemie, Rassismus, Terrorismus, Hunger, was auch immer uns einfällt … Es geht um kollektive Lösungsbegabungen. Umso mehr Menschen von Anfang an wissen, dass es auf sie drauf ankommt und dass ihre Lösungsansätze gewünscht und gewollt sind – die sollen Vorschläge machen und sich einbringen; umso mehr sich einbringen, umso höher ist die kollektive Lösungsbegabung – umso eher schaffen wir das.
Marina Herzmayer: Dh Fragen stellen und Kinder machen und probieren lassen?!
Hengstschläger M.: Also … Sie wollen ein konkretes Beispiel, das bekommen Sie jetzt auch: Das Kind klettert auf einen Baum ganz nach oben, weil das Hinaufklettern mit einer sehr coolen Emotion verbunden ist. Dann sitzt es auf dem Ast und schaut nach unten und dann führt dieser neue Blickwinkel in der Regel zu einer leichten Panikattacke. Was hat sich geändert? Zum einen glaube ich einmal, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind auf einen Baum klettert, ohne dass ein erstgradig Verwandter darunter steht, in Österreich schon einmal sehr gering ist. Das war vielleicht früher einmal anders. Zweiter Punkt ist: Wenn das Kind jetzt dort oben sitzt und unten Eltern oder Verwandte stehen und merken, dass das Kind Zweifel hat, dann wird man hinaufrufen: „Rühr dich nicht!“ Die Aufgabe des Kindes zum Beitrag dieser Lösung ist also „Rühr dich nicht! Mach gar nichts!“. Umso weniger sich das Kind jetzt in dem Moment rührt, umso mehr wird es später gelobt: „Das hast du toll gemacht – weil du hast gar nix gemacht.“ Dann gibt es die Möglichkeiten, dass Mama oder Papa hinaufklettern, eine Leiter zu organisieren, die Feuerwehr anzurufen oder was auch immer. Das sind alles Lösungen … kann man machen. Am Ende wird bei der nächsten ähnlichen Situation das Kind schon von vornherein da oben sitzen und sagen: „Ich weiß schon … ich soll mich nicht rühren. Tut’s aber weiter, ich will heute auch noch etwas anderes spielen. Kommts mit eurer Lösung, wendet sie an, holt mich da wieder runter und dann spiele ich etwas anderes.“ Was wäre also der richtige Ansatz? Der richtige Ansatz ist, dass man das Kind fragt: „Was hast du für Vorschläge? Auf welche Ideen würdest denn du kommen?“ Und wenn das Kind auf die Idee kommt, dass der Papa oder die Mama hinaufklettern soll, dann kann man das tun. Also man setzt sich hin, erarbeitet Vorschläge – vielleicht sogar unter Einbringung verschiedener Ideen mit verschiedenen Hintergründen – und dann hat man solche Ideen. Man pilotiert diese, wirft sie einmal auf den Markt, testet sie, Fehlerkultur wenn es nicht funktioniert, archiviert das Wissen, dass es nicht funktioniert hat, damit man es beim nächsten Mal schon weiß. So kommt man sehr schnell drauf, dass das genau die Prozesse sind, von denen wir sagen, dass wir die später in der Wirtschaft und Wissenschaft brauchen: Ideen, pilotieren, austesten, Fehlerkultur, Archivierung … all das. Ein Kind macht das automatisch. Wenn die Eltern hinaufrufen und dem Kind sagen, dass sie da nicht hinaufklettern können, dann bedeutet das für das Kinde: Ok, erster Versuch gestartet; dass könnt ihr nicht; archiviert. Dann kommt der zweite Vorschlag, zB Leiter. Und irgendetwas klappt dann. Mir ist es also egal … es geht mir nur darum, dass die Lösungsfindungsprozesse geübt werden können, dass es getestet und ausprobiert werden kann. Natürlich immer ohne die Schädigung von Dritten. Das ist immer unser Argument. Die Menschen sagen – also Eltern oder Menschen, die mit Kindern arbeiten – dass man ja nicht will, dass die nächste Generation auf die heiße Herdplatte greift. Das stimmt auch. Aber wenn wir ehrlich sind, ist der Hauptgrund, warum wir Lösungsfindungsprozesse bei der nächsten Generation immer abkürzen, der, dass es zu lange dauert und zu mühsam ist. Und wenn wir das aber zulassen und wenn wir in diese Richtung arbeiten, dann glaube ich, haben wir eine lösungsbegabte Gesellschaft. Und das sind dann Menschen, die später sagen: „Macht mal Platz da, weil ich bin immer für Lösungen gut und mir fällt immer wieder etwas ein. Ich weiß, es klappt nicht alles, aber das probieren wir aus … Fehlerkultur … und dann geht’s los.“
Marina Herzmayer: Jetzt wäre das natürlich eine schöne Geschichte für die Zukunft oder vielleicht funktioniert das in manchen Fällen bestimmt auch schon. Sie haben auch ein Buch darüber geschrieben, das nennt sich Die Durchschnittsfalle. Wie viele Österreicher und Österreicherinnen – kann man da eine Prozentzahl sagen? – stecken in dieser Durchschnittsfalle drinnen?
Hengstschläger M.: Also zum einen ich habe ein Buch über die Lösungsbegabung geschrieben und ein Buch über die Durchschnittsfalle. Die Durchschnittsfalle ist noch einmal ein bisschen etwas anderes. Die Durchschnittsfalle bedeutet ja in Wirklichkeit – ich habe ja überhaupt nichts gegen den Durschnitt, das habe ich immer wieder gesagt, als das Buch damals herausgekommen ist – aber ich habe etwas dagegen, wenn man den Durchschnitt als Ausrede verwendet und sagt: „Mehr muss ja nicht sein. Da bin ich ja eh im Durchschnitt.“ Ich glaube, dass jede und jeder immer wieder einmal in der Durchschnittsfalle steckt. Es ist ja nicht so, dass es einen Menschen gibt, der in Summe in der Durchschnittsfalle steckt. Sondern es gibt Dinge, da sind wir eher dazu geneigt, uns damit zufrieden zu geben oder was auch immer. Ich glaube aber, dass das – wenn es um Innovation und das Betreten von Neuland geht – nicht der richtige Ansatz sein kann. Und jetzt kommen wir zurück zu dieser „Peak“ und „Freak“ Geschichte. Erst wenn wir diesen Durchschnitt verlassen, erst wenn wir bestimmte Dinge einmal ausprobieren und uns sozusagen etwas trauen und den notwendigen Mut zeigen, dann glaube ich – kombiniert mit einer florierenden Lösungsbegabung – ist es eine gute Voraussetzung, um neue Ideen und Innovationen zu finden. Ich drehe es jetzt vielleicht noch einmal so, wenn es um den Durchschnitt oder die Durchschnittsfalle geht: Die Menschen antworten nämlich sehr oft darauf: „Aber was ist jetzt das was ich …?“ „Wo bin denn jetzt ich überdurchschnittlich?“ „Was kann denn jetzt ich?“ Und da haben wir – das ist zwar ein bisschen provokant, wenn ich das so sage – einen leicht diskriminierenden Umgang mit dem Begriff Talent. Den akzeptieren wir einfach. Wenn wir sagen, es gibt einen Lionell Messi, der ist gerade wieder zum Weltfußballer gewählt worden, ein toller Fußballer; es gibt eine Elina Garanca, eine Opernsängerin. Und wir sagen: „Wow, solche Talente!“, „Das sind Talente!“. Wenn man dann aber auf der anderen Seite andere Menschen vorstellt mit beeindruckenden Leistungen, dann sagen wir: „Aber welches Talent soll das jetzt genau sein?“ Und ich sage, erst wenn wir es in Österreich konsequent hinbekommen zu sagen, dass jemand, der es kann und will ein Leben lang andere Menschen zu pflegen, ein mindestens so großes Talent ist, wie ein Fußballspieler, dann ist für jeden etwas dabei. Dann dürfen wir den Begriff wieder verwenden. Und dann haben wir „Eliten“ auf allen verschiedensten Ebenen. Denn man kann etwas Besonderes leisten im Sport, in der Musik, in der Wissenschaft, in der Wirtschaft oder wo auch immer aber eben auch zB in der Pflege, im sozialen Bereich, im kreativen Bereich oder wo auch immer … egal. Und wenn wir das akzeptieren, dann haben wir einen neuen Talent-Begriff, denn irgendwie ist jede und jeder talentiert. Wir müssen uns nur auf die Suche machen.
Marina Herzmayer: Das heißt im Endeffekt, die Grenze der Norm ist gar nicht so weit draußen?! Also der Bereich von der Norm bis außerhalb dieser Durchschnittsfalle, der ist gar nicht so schwer zu erreichen im jeweiligen Bereich?!
Hengstschläger M.: Genau. Da gebe ich Ihnen völlig recht. Ich glaube, dass wir in vielen Bereichen in dieser Falle oder in diesem Bereich sind. Aber jede oder jeder von uns irgendwo auch heraussticht.
Marina Herzmayer: Mhm, ja.
Jetzt haben wir vorhin schon darüber gesprochen: Sie sind der Meinung, man hat ein gewisses Talent … mit dem wird man geboren; aber man kann nicht überall super werden; man kann nicht alles werden?! Ist das so richtig?
Hengstschläger M.: [lacht] Also Vorsicht jetzt … Es ist so – damit ich das noch einmal ganz klar sage: Eine Begabung ist ein Potential. Da gibt es eine genetische Veranlagung dafür. Aber die kommt erst zum Tragen, wenn man durch üben, üben, üben etwas daraus macht. Wir müssen sozusagen diese Wechselwirkung aus Genetik und Umwelt auch wirklich bei der Umsetzung von Talenten und Begabungen akzeptieren. Das bedeutet: Wenn man übt, kommt nicht bei jedem oder jeder das gleiche heraus, aber ohne üben kommt bei dem Talent überhaupt nichts heraus. Also das wäre sozusagen der Ansatz. Damit meine ich: Ich glaube, dass jeder Mensch in bestimmten Bereichen durch einen gewissen Einsatz – das ist immer die Voraussetzung – etwas besonderes leisten kann. Ob das jetzt in der Pflege oder in der Wissenschaft ist oder wo auch immer, oder im Fußball. Umgekehrt ist aber auch klar, dass nicht bei jedem das gleiche rauskommen wird, wenn man übt. Und das habe ich mit diesen 10.000 Stunden gemeint. Es ist nicht so, dass, wenn jeder Mensch 10.000 Stunden lang etwas tut, dann überall eine Spitzenleistung herauskommt. Das glaube ich auch wieder nicht.
Marina Herzmayer: Und vor allem kommen ja auch noch die Faktoren Spaß und Freude dazu … Talent ohne Spaß … kann das etwas werden?
Hengstschläger M.: Also Motivation ist natürlich ein ganz, ganz großes Thema. Wir müssen uns ja nur die Frage stellen, wenn wir Voraussetzungen sind und wir wollen üben, üben, üben … dann muss man auch irgendwie motiviert sein, um das tun zu wollen. Das gibt dem Menschen auch eine enorme Chance. Und diese Chance muss man – jetzt sind wir schon ein bisschen im Detail, aber das macht ja gar nichts – diese Chance ist nämlich, dass man bis zu einem gewissen Grad sagen kann, wenn ich besondere Voraussetzungen für etwas habe, aber dort nicht motiviert bin und daher gar nichts mache, nicht übe, nicht fleißig bin, nicht dran bleibe, mich nicht am aktuellsten Stand der Dinge informiert halte, dann kommt da gar nichts heraus. Wenn ich nicht die besten, aber ganz gute Voraussetzungen habe und hoch motiviert und sehr fleißig und sehr engagiert bin, dann kommt sehr viel dabei raus. Daher ist die Kraft der Motivation enorm groß, wenn es darauf ankommt, etwas aus Begabungen oder Talenten zu entwickeln oder zu fördern.
Marina Herzmayer: Kommen wir zurück zu Ihnen. Sie haben sich dann für die Genetik entschieden. Welche Faktoren waren da dabei? War das Talent oder die Begabung? War das auch viel der Spaß? Wie hat sich das entwickelt oder wie ist es dazu gekommen?
Hengstschläger M.: Also ich glaube da gebe ich Ihnen eine ganz kurze Antwort: In Ermangelung anderer Talente habe ich mich für Genetik entschieden [lacht]. Also ich war immer naturwissenschaftlich interessiert und ich habe 1986 maturiert. Da war das gerade so ein Thema, das gerade begonnen hat und es hätte auch etwas anderes naturwissenschaftliches sein können. Wenn Sie jetzt diesen Spaßfaktor ansprechen – wobei mir das Wort „Spaß“ hier nicht so gut gefällt; ich bin eher bei „Motivation“ – die wird von Tag zu Tag schlimmer … das wird immer mehr. Und irgendwie versucht man dann schon langsam sich wieder ein wenig einzubremsen. Aber umso mehr man weiß, umso mehr will man wissen.
Marina Herzmayer: Mhm. Also Sie als Genetiker … Ich hoffe ich wiederhole mich nicht, aber gibt es genetische Unterschiede von jemanden, der einfach „dafür gemacht“ ist? Also jemand, der Physiker oder Musiker wird? Gibt es da einen Unterschied in der Genetik?
Hengstschläger M.: Also ich glaube gerade bei solchen Dingen wird die Genetik sehr überschätzt. Wir wissen ja, wo die Genetik bzw. wo Gene eine große Rolle spielen. Bei Faktoren wie äußeren Merkmalen wie zB Augenfarbe, Haarfarbe, Geschlecht, Körpergröße, Gesichtstyp, Muskulatur usw da wissen wir, dass Gene eine große Rolle spielen. Aber gerade bei dem, was ich immer sage, was den Menschen eigentlich zum Menschen macht, also wenn es um Verhalten und Neigungen oder um Begabungen und Talente geht, da werden Gene aus meiner Sicht ganz gerne überschätzt. Und ich sage jetzt vielleicht wieder etwas Provokantes darauf. Warum eigentlich? Warum ist denn das so? Und ich glaube, dass es ganz gerne als Ausrede verwendet wird. Es wird ganz gerne als Ausrede verwendet. Anstatt man sagt: „Ok das stimmt, ich müsste jetzt wirklich viel tun, damit das besser wird.“, sage ich einfach einmal: „Das ist nicht meines.“ Ich weiß ja gar nicht, was der Satz „Das ist nicht meines.“, bedeutet bzw. was die wissenschaftliche Hinterlegung von diesem Satz ist. Ich glaube man meint damit, dass man für etwas nicht die idealen Voraussetzungen hat und es sich daher gar nicht auszahlt, wenn man da besonders fleißig ist. Also Sie sehen schon, was ich hier jetzt unterstelle. Aber ich glaube schon, dass man auch akzeptieren muss – und das muss man halt immer im Leben – dass Biologie immer eine Rolle spielt. Das hört sich jetzt fast so an als würde ich sagen, dass das gar keine Rolle spielt … das tut es natürlich schon. Aber gerade bei diesen Themen wird diese Rolle in der Regel überschätzt.
Marina Herzmayer: Gibt es eigentlich ein gewisses Alter oder eine gewisse Zeit im Leben, in der man Talente oder Begabungen besonders gut erkennen kann?
Hengstschläger M.: Also natürlich gibt es bestimmte Zeiträume im Leben, in denen sich etwas herauskristallisieren kann und vielleicht auch soll, aber es ist spannend dabei einmal nachzudenken, wie in der Gesellschaft dieser Prozess des Talent-Förderns und Talent-Entdeckens überhaupt abläuft. Da stellt man plötzlich fest, dass wir offensichtlich immer ein bisschen hinterherlaufen. Denn der Zeitpunkt, wo man auf jeden Fall schon beginnen sollte sich mit seinen Talenten intensiv auseinanderzusetzen, ist einer, wo man ganz sicher über seine Talente nicht nachdenkt, weil man noch viel zu klein ist. Also im Alter von drei, vier, fünf Jahren ist es enorm spannend herauszufinden, was man nicht schon alles kann, wofür man Interesse haben könnte, wo es Neigungen und vielleicht auch Begabungen und Potentiale gibt. Da braucht man – wir haben es schon gesagt – ein Vis-á-Vis. Und ich lege da noch einen drauf. Ich sage nicht, dass wir das brauchen oder dass es gut wäre, sondern ich sage, dass es das Recht jeden Kindes ist, dass man sich professionell auf die Suche nach seinen oder ihren Talenten macht. Das ist eigentlich ein Recht. Wir sprechen dann immer von der Bildung und davon, dass sie– ich nenne es gerichtetes Wissen – lernen müssen und all diese Themen. Aber all das wovon man sagen kann, dass wir uns einmal wirklich mit den individuellen Talenten beschäftigen, das ist ein Recht. Das fängt an bei der Familie, bei Freunden, im Kindergarten, während der gesamte Elementarpädagogik, man geht in die Schulen, man geht dann in die Lehre oder wo auch immer. Es gibt unglaublich viele Möglichkeiten. Es gibt ein afrikanisches Sprichwort, das sagt: „Um ein Kind zu erziehen braucht es ein ganzes Dorf.“ Ich habe das erweitert und habe gesagt: „Um ein Talent zu entdecken und zu fördern braucht es mehrere Dörfer.“ Also es geht sich heutzutage in einem wahrscheinlich gar nicht aus. Dh hier brauchen wir dieses Feedback, damit sich das entwickelt. Und das zweite: Ich habe über diesen blind spot, also dass man vieles über sich nicht weiß, schon gesprochen. Da gibt es auch etwas, das mir manchmal Gedanken macht. Also auch jetzt sozusagen aus der Sicht der Wirtschaft und aus der Sicht des Berufes und dem Erlernen von Berufen oder seine Interessen zu entwickeln um zB eine Lehre zu machen oder eine Schule oder ein Studium auszuwählen … gerade in dem Alter – sagt man – fällt es Menschen besonders schwer, sich selbst einzuschätzen. Das hat verschiedenste Gründe; multifaktorielle Gründe. Ein paar kann man sich eh zusammenreimen, vielleicht auch andere Interessen. Aber es ist besonders schwierig. Und da ist es gerade in der Situation besonders wichtig, dass man da sozusagen ein Vis-á-Vis hat das einem sagt: „Du, ich bleib eh dran, ich geb‘ dir Feedback. Ich sag dir, wo wir glauben, dass bei dir vielleicht besondere Voraussetzungen sind.“
Marina Herzmayer: Jetzt würde mich persönlich interessieren: Wie viel Talent und Kompetenzen hält ein Mensch aus? Oder wie viel kann man in ein Leben hineinpacken? Es gibt immer wieder die Menschen, die sagen: „Du kannst alles und egal wo man dich hineinstellt, du bist sehr geschickt.“ Diese Menschen tun sich aber auch oft schwer, sich zu spezialisieren. Muss man sich spezialisieren oder kann man sich einfach alle zehn Jahre wieder neu spezialisieren? Wie viel hält man auf einmal aus?
Hengstschläger M.: [lacht] Also „Wie viel hält man aus?“ ist eine sehr komplizierte Frage. Aber ich fange einmal so an: Ich glaube, wenn man über die Entwicklung eines Menschen, die Bildung, Ausbildung, Weiterbildung, lifelong learning usw. nachdenkt, dann muss man zwei Dinge unterscheiden. Das eine ist gerichtete Bildung – ich nenne es gerichtete Bildung. Gerichtete Bildung heißt, gerichtet auf ein Thema gibt es vielleicht schon ein Wissen und dieses Wissen transportiere ich von einer Generation in die nächste mit der Hoffnung, die nächste Generation baut darauf auf. E = mc², a²+b²=c² und Penizillin hilft gegen Bakterien. Solange der Stand der Wissenschaft sich hier nicht grundlegend ändert, ist das jetzt Wissen, das es schon gibt. Es ist noch nicht Wissen – wir könnten jetzt über den Unterschied zwischen Dateninformation und Wissen sprechen, aber sagen wir einmal „Wissen“. Und dieses Wissen transferieren wir in die nächste Generation. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler generieren solches Wissen in der Hoffnung, dass die nächste Generation es gleich verwenden und darauf aufbauen kann. Und dann geht es weiter. Sonst müssten wir das Rad jedes Mal neu erfinden. Und bei dem Wissen können Sie sich fragen: Wie viel Wissen braucht ein Mensch? Dann sage ich Ihnen heute, dass das Wissen so zugänglich ist wie noch nie. Wir leben definitiv in einer Wissensgesellschaft. Damit meine ich aber nicht das individuelle Wissen, sondern das Wissen, das die Gesellschaft und der Planet Erde haben; das, was wir heute schon alles wissen. Die Zugänglichkeit ist im Zuge der digitalen Transformation enorm geworden: schnell, lokal unabhängig. Aber trotzdem ist das noch nicht wirklich Wissen. Was ist also das, was wir tun müssen? Umgekehrt aber müssen wir jetzt dafür sorgen, dass dieses Wissen zur Anwendung und zur Lösung von neuen Problemen und von neuen Herausforderungen angewendet werden kann. Da braucht es jetzt Kompetenzen. Und da ist mit mir nicht viel zu handeln, wenn Sie jetzt sagen: „Was halten wir aus?“, denn da gibt es ein ganzes Set an ungerichteten Kompetenzen, ohne die Sie dieses Wissen nicht in Innovation, Neuland betreten und neue Lösungen umsetzen können. Und als ungerichtete Kompetenzen bezeichne ich jene, wo ich sage, die sind nicht für das eine Problem die Lösung, sondern die braucht man für alles, was an Herausforderungen im Leben kommt. Fangen wir einmal an: kritisches Denken, Kreativität, in Zeiten wie diesen – um es ja nicht vergessen erwähnt zu haben – recherchieren: Was ist eine Quelle? Wo kommt das her? Wer ruft das? Also recherchieren können, denn sonst sind wir diesen Daten ausgeliefert, wenn wir nicht recherchieren können. Aber es gehören auch dazu: Mut, soziale Kompetenz, Teamfähigkeit, intro- und interpersonelle Intelligenz, Resilienz, Ethik. Da gibt es verschiedenste Begriffe dafür. Da gibt es Leute, die haben das 21st century skills genannt. Ich glaube, dass den großen Unterschied auch noch das Ausmaß an Empathie das Menschen im Laufe ihres Lebens entwickeln, ausmachen wird, wenn es darum geht, welche Kompetenzen ich brauche, um erfolgreich in die Zukunft zu gehen und die Zukunft zu gestalten. Also, ich möchte jetzt auf keinen Fall missverstanden werden. Gerichtetem Wissen … – dh das Lernen hat ja nicht seine Bedeutung verloren, das ist ganz unverzichtbar – … Erst in Kombination mit all diesen ungerichteten Kompetenzen kann man damit Neuland betreten und neue Ideen kreieren, kreativ sein und etwas Neues entwickeln. Wenn man mich jetzt fragt, wo Luft nach oben ist, dann sehe ich beim Wissen eigentlich, dass es sehr viel Wissen gibt, das von einer Generation zur nächsten transportiert wird, aber gleichzeitig kümmern wir uns selten oder nicht im ausreichenden Ausmaß um die Entwicklung der ungerichteten Kompetenzen; da sehe ich definitiv Luft nach oben.
Marina Herzmayer: Mhm. Sehr schön. Also haben wir noch viele Möglichkeiten, die vor uns liegen. Wir haben es kurz erwähnt: Ihre Überzeugung damals war Forever Punk. Ihre Eltern waren davon weniger überzeugt. Da sehen wir wieder, dass Eltern doch immer wieder einmal recht haben. Sie haben aber trotzdem gesagt, das habe ich gelesen, die Veränderung, die Sie gemacht haben, oder dass die Jahre des Lernens Sie so verändert haben … was finden Sie so schön an Veränderung?
Hengstschläger M.: Also vielleicht ist das jetzt eine sehr individuelle Antwort, aber man muss es dann doch noch einmal auseinanderdröseln und sagen: „Ist es nicht im Menschen drinnen?“ Sonst wäre ja der Mensch nicht der Homo Sapiens den es in der Form seit 300.000 Jahren gibt und all die Evolution die davor stattgefunden hat und all das. Der Mensch ist ja ein unglaublich suchendes Wesen, sonst hätten wir all diesen Fortschritt nicht. Man braucht doch nur einmal in den letzten 150 Jahren nachschauen, was wir nicht alles auf diesem Planeten verbessert haben. Es gibt noch unglaublich vieles zu tun und es ist noch vieles im Argen, aber es gibt gerade neue Herausforderungen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Aber wir haben Unglaubliches zusammengebracht, wenn es um Bildung, Gerechtigkeit, Gesundheit und all diese Themen geht. Was haben wir nicht alles zusammengebracht. Dh der Mensch sucht die ganze Zeit. Er will die ganze Zeit neue Lösungen und Innovationen. Das ist im Menschen drinnen. Und bei mir ist es so: Ich glaube an eine Standbein-/Spielbein-Theorie. Es gibt Dinge, da will man einfach das Bewährte und das was man kennt haben. Der Mensch ist natürlich auch in gewissen Maßen ein Gewohnheitstier. Und da sagt man auch, dass gewisse Dinge einem Kraft geben, aus der Sicherheit heraus, dass man das immer so gemacht hat; und das behält man jetzt zumindest eine gewisse Zeit bei. Es sei denn, es muss sich etwas Grundsätzliches ändern. Um aber gleichzeitig immer auch jede Menge Neues ausprobieren zu können und sich zu verändern. Dh ein Mensch, der sozusagen nur auf der einen Seite, also sozusagen statisch, bleibt, ist für mich nicht der richtige Ansatz. Sondern erst in der Kombination mit dieser Flexibilität, gleichzeitig mit der Sicherheit. Ich sage Ihnen jetzt etwas, das ist zwar sehr abstrakt, aber damit Sie es sehr praktisch sehen können: Das hier ist ein Universitätsinstitut und wir machen hier genetische Diagnostik und betreuen Patienten. Ich bin kein Arzt, aber es gibt viele Ärztinnen und Ärzte hier im Haus, die bei uns im Zentrum das machen; wir machen genetische Diagnostik, wir machen natürlich Lehre und wir machen Forschung. Und bei der Forschung machen wir immer wieder Projekte, die ich yes or yes nenne. Das sind Projekte, da weiß man, dass etwas herauskommt; oft weiß man auch schon was herauskommt. Man macht die Experimente dann aber doch, dann kommt das heraus; dann fährt man international auf eine Konferenz, dann stellt man das den Kollegen und Kolleginnen vor, die dann sagen, dass das aber irgendwie predictable war. Die haben das aber selbst noch nicht gemacht und dann publizieren wir das. Das nenne ich yes or yes – das ist ziemlich stabil und sicher. Im Wirtschaftssystem würde man dazu Cashcow sagen, denn das funktioniert. Und dann macht man immer wieder yes or no Projekte. Bei diesen Projekten weiß man überhaupt nicht, ob da etwas herauskommt und man hat keine Ahnung, was da herauskommen könnte. Da gibt es ein viel höheres Risiko und es ist Neuland in höherem Ausmaß. Wissenschaft begeht immer Neuland, aber da vielleicht in höherem Ausmaß. Aber wenn dort etwas herauskommt, dann ist es vielleicht wirklich ein großer Durchbruch. Und jetzt ist diese Kombination aus den beiden eine besondere Stärke, denn man holt sich bis zu einem gewissen Grad die Sicherheit in dem man sagt, dass man immer wieder Dinge macht, von denen man weiß, dass es läuft. Und dann riskiert man wieder einmal etwas. Wenn ich in der Wirtschaft nur yes or yes Projekte mache, kann es mir passieren, dass alles gut läuft und die Auftragslage gut ist. Aber dann kommt eine disruptive Innovation und ich werde vom Markt gefegt. Es gibt große Firmen, die bei voller Auftragslage vom Markt gefegt worden sind, weil disruptive Innovationen sie sozusagen ersetzt haben. Auf der anderen Seite, wenn ich nur yes or no Projekte machen und ich riskiere mehrere Jahre andauernd 100 % und es kommt dabei nichts heraus, geht mir die Luft, die Kraft und am Ende das Geld aus und ich habe auch nichts zusammengebracht. Deshalb finde ich die Kombination aus diesen beiden Dingen so wichtig. Und wenn Sie das jetzt wieder auf ein individuelles Leben zurücklegen – Sie können auch in einem individuellen Leben sagen, dass es ein paar Dinge geben muss, aus denen ich mir die Sicherheit hole – dann kann ich mich permanent auch in anderen Bereichen immer wieder verändern.
Marina Herzmayer: Jetzt sind wir eigentlich direkt beim nächsten Thema: Geht es ohne Mut?
Hengstschläger M.: Also … Sie glauben, dass das eine ganz kurze klare Antwort ist. Darauf kann ich sagen: „Nein, es geht nicht ohne Mut.“ Das wäre eine absolut richtige Antwort. Aber Vorsicht, so einfach geht das nicht. Also ich habe ein großes Problem – das uns auch jetzt zurzeit sehr beschäftigt – nämlich, wie zur Zeit mit der Angst umgegangen wird. Also zurzeit sagen alle: „Nein, das müssen wir wieder zusammenbringen. Wir müssen unsere Ängste loswerden, damit wir dann wieder in die Zukunft gehen können. Um mutig zu sein, muss man seine Angst loswerden.“ Ich bin ein Biologe und sage Ihnen, dass Angst überlebenswichtig ist … und zwar evolutionär seit immer und ewig. Wenn wir diese Gefühle wie Furcht vor etwas Konkretem, Angst vor etwas Diffusem kennen würden, dann würden wir nicht fokussiert, schnell, konzentriert und abwägend auf Situationen reagieren können. Dann wäre zB eine lebensbedrohende Situation, die mir überhaupt keine Angst mehr macht, fatal. Dh wenn jemand mutig ist und zu mir sagt, dass Mut das wichtigste ist, um innovativ zu sein und seine Talente umsetzen zu können, dann sage ich immer: Ja, solange der Mut auch begleitet ist von dem was Angst oder Befürchtung oder Respekt vor der Situation auslöst. Denn wenn man den notwendigen Respekt hat, dann hält man die Abwägungsprozesse aufrecht, dann überlegt man, ist man konzentriert, bleibt man fokussiert oder denkt auch schnell darüber nach. Wenn man das nämlich nicht tut, ist Mut nichts anderes als Dummheit. Also Mut ohne diesen Zusatz ist nichts anderes als Dummheit.
Marina Herzmayer: Mhm … mit Respekt.
Hengstschläger M.: Mit dem notwendigen Respekt, der dann auch bei uns auslöst, dass wir uns fokussiert, schnell und vor allem mit Abwägungen mit den Dingen beschäftigen.
Marina Herzmayer: Eine weitere Kompetenz von Ihnen ist auch das Schreiben von Büchern. Sie haben einige Bücher verfasst und ich würde sagen, Sie haben wissenschaftliche Themen alltagstauglich dargestellt. Wie wichtig ist es – gerade auch bei Ihnen und aus Ihrem eigenen Leben berichtet – dass man auch im Berufsleben mehrere Standbeine aufbaut, flexibel bleibt und sich in verschiedene Richtungen unabhängig voneinander weiterentwickelt?
Hengstschläger M.: Also ich gebe Ihnen jetzt meine ganz persönliche Antwort, aber da gibt es wahrscheinlich andere Ansichten auch. Wie mache ich das? Ich habe einen inneren Kreis, also einen Kernbereich, und das ist bei mir die Genetik. Und wenn sich etwas mit diesem Kernbereich überschneidet, dann möchte ich mich damit beschäftigen. Dh es muss nicht 100 % deckungsgleich sein, aber es muss eine Überschneidung geben. Wenn ich über Talente und Begabungen spreche, dann mache ich das, weil die Menschen immer meinen, dass die Gene dabei eine so große Rolle spielen – ich möchte sogar sagen, dass diese Rolle überinterpretiert wird – und das war eine der Veranlassungen, dass ich mir gedacht habe, dass muss man sich einmal näher anschauen, wie das wirklich ist. Und wenn man Bücher schreibt … bei meinen Büchern gibt es immer eine große Überschneidung mit der Genetik. Das ist halt mein Thema. Und ja, das stimmt. Man kann fragen, wie man sich mit seinem Kernbereich beschäftigt oder welche Instrumente man verwendet, um sich mit seinem Kernbereich zu beschäftigen. Menschen an Universitäten sind ja ohnedies schon mannigfaltig. Ich betreibe Genetik in Forschung, in Diagnostik, in Patientenbetreuung, in Lehre, aber auch bei vielen Funktionen, die man hat, zB bei Beratungsfunktionen, wo es darum geht, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen. Auf der anderen Seite ist es aber eng und das glauben die Menschen manchmal auch wieder nicht. Ich bin kein Pflanzengenetiker. Also ich habe noch nie etwas über Pflanzengenetik gesagt. Und viele Menschen meinen, das ist doch einfach Genetik. Darauf sage ich, dass das ganze aber viel enger ist, als man glaubt. Weil eine Pflanzengenetik ist nicht das gleiche wie das was wir in der medizinischen Genetik betreiben. Und das muss man einfach wissen. Also ich geben Ihnen schon recht dabei, dass es ein guter Weg ist, sich intensiv im Sinne uni-versität, also mit vielen verschiedenen Dingen aber mit einem Kernbereich zu beschäftigen. Das finde ich einen guten Ansatz.
Marina Herzmayer: Mhm. Kernbereich, aber dann auch diese verschiedenen Standbeine, oder nicht?
Hengstschläger M.: Ja schon. Aber ich würde es nicht als verschiedene Standbeine bezeichnen. Sondern es ist sozusagen so, dass man über diesen Kernbereich von verschiedenen Perspektiven herankommt. Es bleibt trotzdem immer der Kernbereich.
Marina Herzmayer: Mhm. Was mir gerade in Ihren Büchern auch aufgefallen ist: Humor spielt hier eine wichtige Rolle. Wie wichtig ist Ihnen Humor im Leben? Oder warum ist es Ihnen wichtig in Büchern über Genetik auch Humor hineinzubringen?
Hengstschläger M.: Also hier geht es ein bisschen um etwas, das ich einen pädagogischen Effekt nenne. Nämlich: Wie erreicht man jemanden? Was ist denn überhaupt der pädagogische Effekt an einer Universität? Die Studierenden kommen ja hier her, um Wissen zu erlangen und wollen dieses Wissen dann verwenden und anwenden können und lösungsbegabt in neue Lösungen umsetzen können usw. Und dafür gibt es Instrumente, die dafür sorgen, dass man Informationen in einer Vorlesung so transportiert, dass zumindest einige die bei dieser Vorlesung dabei waren, das gleich mitnehmen und sich das merken, weil es eine Geschichte war. Mir ist es so oft in meinem Leben passiert, dass mich Studierende später noch auf Vorlesungen angesprochen haben und gesagt haben, dass sie sich diesen „Scherz“ oder diese „Geschichte“ ihr Leben lang gemerkt haben. Ich mache es aber so: Es ist dieses Instrument dazu da, dass die Menschen dann vielleicht am Abend beim Heurigen sitzen und sagen: „Das muss ich euch erzählen …!“, „Was der heute erzählt hat …!“. Und dann fragt das Gegenüber, warum derjenige diese Geschichte erzählt hat. Und dann muss man den wissenschaftlichen Hintergrund dafür kennen, denn den gibt es bei mir immer. Es gibt immer irgendwo einen Hintergrund, dass dieses Instrument nur verwendet wird, um Fakten oder was auch immer zu transportieren. Und dann erklären das die Leute und erzählen, um was es geht. Und in diesem Moment ist der Stoff vermittelt. Ich glaube das ist beim Lesen so und auch bei Vorlesungen so. Das ist ein sehr hilfreiches Instrument wie man dafür sorgt, dass die Menschen sich mit den Dingen dann auch ein bisschen auseinandersetzen.
Marina Herzmayer: Welche Talente glauben Sie schlummern noch in Ihnen? Sie sind jetzt 53 und es liegen noch viele Jahre vor Ihnen. Was könnte da noch kommen?
Hengstschläger M.: Jeder Mensch, glaube ich, kann nicht für sich in Anspruch nehmen zu sagen: „Ich kenne mich so gut und ich weiß ganz genau, was ich kann und was ich nicht kann.“ Aber umso älter man wird, umso mehr Ahnung bekommt man. Und zwar nicht nur durch sich selbst – man kann sich ja auch ein bisschen irren – sondern auch durch das Vis-á-Vis oder die Menschen, die einem Feedback geben. Dh man hat dann schon ein ganz gutes Bild und das macht auch Sinn. Aber das bedeutet nicht, dass man nicht auch – weil man sich mit irgendetwas beschäftigt – dafür etwas Neues an sich selbst erarbeiten muss, wie ZB Begabungen, Talente, Wissen, was auch immer. Und in meinem Fach ist es jetzt sicher so passiert, dass wir uns sehr, sehr viel mit Bioinformatik beschäftigen. Das haben wir damals, als ich studiert habe, noch nicht getan, denn das war damals noch gar nicht an der Tagesordnung. Aber heute beschäftigen wir uns sehr intensiv damit. Jetzt bin ich zwar kein Experte dafür, aber wir haben hier im Haus die Expertinnen und Experten und wir diskutieren das. Wir müssen uns damit beschäftigen, weil das Fach das verlangt. Und jetzt sehen Sie schon, dass man sozusagen immer auf der Suche ist und dass man herausfinden muss, ob man dafür halbwegs begabt ist oder ob man das ein bisschen kann oder nicht usw. Aber was Sie natürlich angesprochen haben ist, ob ich noch vorhabe Opernsänger zu werden, oder ob ich noch vorhabe …
Marina Herzmayer: … Schnitzen zu lernen?
Hengstschläger M.: … Schnitzen zu lernen … Also ich bin für alles offen, aber ich sagen Ihnen ganz ehrlich, dass ich das unglaubliche Glück habe, etwas gefunden zu haben, das mich so unglaublich fasziniert, sodass ich mir eigentlich wenig Zeit von dem abzweigen will, um mich nicht damit zu beschäftigen. Dh ich will dabeibleiben [lacht]. Und selbst wenn … Ich würde mich die nächste Zeit sicher noch zu 100 % auf das konzentrieren wollen.
Marina Herzmayer: Mhm. Wenn wir jetzt kurz beim Alter und beim Altern und bei der Entwicklung, die wir da noch machen können, bleiben … Wir haben es schon angesprochen: Eltern haben dieses Privileg irgendwann zu sagen: „Ich hab’s dir ja gesagt.“ – das ist eine schöne Sache des Alterns. Was sind denn sonst Vorteile vom älter werden oder vom Altern? Werden wir nur „schwächer“ und die Zellen teilen sich nicht mehr so schön, oder gibt es auch Vorteile davon?
Hengstschläger M.: [lacht] Zum einen zu dem „Ich hab’s dir ja gesagt.“: Man sagt das ja nur bei diesen Dingen, bei denen zufällig einmal das eingetreten ist was man vorausgesagt hat. Aber man setzt sich auch nicht hin und erinnert die nächste Generation ständig daran, wo man es falsch eingeschätzt hat; das tut man ja nicht. Auch wenn man das täte … ich glaube das würde eh nicht so gut ausgehen, aber kann man machen, wenn man will. Jetzt zum Altern: Ganz generell muss man natürlich sagen, dass das Altern ein Prozess ist. Das könnte man jetzt auf so vielen Ebenen diskutieren, aber jetzt sitzen Sie hier mit einem Biologen und wir werden es einmal biologisch diskutieren. Beim biologischen Altern hat sich Enormes verändert. Wir altern chronologisch gleich schnell, denn die Zeit vergeht gleich schnell … Da könnten wir auch die eine oder andere Diskussion darüber führen …
Marina Herzmayer: [lacht]
Hengstschläger M.: … Also wenn heute jemand 53 Jahre alt ist, dann ist er genauso 53 Jahre auf der Welt wie jemand, der vor 200 Jahren 53 Jahre auf der Welt war. Also beide waren 53 Jahre auf der Welt und sind 53 Jahre alt, also chronologisch gleich alt. Biologisch aber sind sie nicht gleich alt. Biologisch nicht gleich alt bedeutet, dass heute 50-, 60-, 70-Jährige biologisch wesentlich jünger sind; also bezogen auf den Gesamtzustand, Körper, Geist, in allen Fähigkeiten usw viel, viel jünger sind, als vor 200 Jahren. Dh wir haben das biologische Altern schon ordentlich aufgehalten und ordentlich verlangsamt. Und das bedeutet auch, dass wir ein bisschen davon ausgehen, dass, wenn ein Kind geboren wird, es wahrscheinlich in etwa eine 1:1 Chance hat, in unseren Breiten 100 Jahre alt zu werden. Das ist aber noch gar nicht das Thema. Ich weiß, das ist jetzt ein bisschen ein flapsiger Satz, aber ich sage ihn trotzdem, weil er viel Inhalt hat: Es geht nicht darum, dem Leben Jahre zu geben. Sondern es geht darum den Jahren Leben zu geben. Der Punkt dabei ist, dass wir aktiv und vital altern wollen. Wir wollen viel machen können und wir wollen biologisch fit sein. Und das können wir jetzt, weil wir die Instrumente haben. Da darf ich mir einen kleinen Schlenker erlauben: Der Schlenker ist natürlich auch, prophylaktisch ein Gesundheitssystem in Anspruch zu nehmen, damit ich gesund bleibe. Da kann man heute so viel mehr tun als vor 200 Jahren oder vor 500 Jahren, weil man einfach das Wissen damals nicht hatte. Was kann man vermeiden? Was soll man tun? Wie soll man damit umgehen? Und Sie können jetzt mit mir über Silicon Valley-Ansätze von immortality research sprechen – Menschen sollen endlich unendlich werden und nie mehr sterben – …
Marina Herzmayer: Als ich „endlich unendlich“ gelesen habe, habe ich mir gedacht: Wann weiß ein Mann dann, dass er in die midlife crises kommen soll, wenn es unendlich ist? Das ist doch unmöglich [lacht].
Hengstschläger M.: [lacht] Also „endlich unendlich“ ist ein Thema, das zurzeit wirklich sehr viele Menschen beschäftigt. Man möchte es nicht glauben, aber es gibt ganz, ganz viel Forschungsgeld von Forschungsfirmen, die sich damit beschäftigen das Leben zu verlängern oder gar Menschen unsterblich zu machen. Das sind große Ziele, die aus meiner Sicht keinen Sinn ergeben und auch nicht erstrebenswert sind, aber auf dem Weg dorthin kann man viele tolle Dinge entdecken und man kann sich überlegen, ob man in diesem Bereich forschen will. Aber was schon stimmt, ist, dass wir ein unglaubliches Repertoire haben, vital alt zu werden: Gesundheitsvorsorge, auf sich achten, die großen Säulen sind immer noch das Gewicht, die Bewegung, der Alkohol, das Rauchen usw. Das sind alles immer noch diese Themen, von denen wir eh wissen, was uns schadet bzw. was uns gut tut. Jetzt könnten wir auch darüber diskutieren – tun wir aber nicht – warum wir es dann nicht ganz in diesem Ausmaß nutzen und ob wir auf dem richtigen Weg sind. Ich glaube da gibt es ein paar Dinge, bei denen man auch nachjustieren kann und wo es Luft nach oben gibt. Ich finde gerade da, wo wir schon diese Chancen haben, warum nutzen wir sie nicht. Diesbezüglich kann ich Menschen nicht folgen, die sagen, dass es ihnen ganz egal ist. Es ist doch cool, wenn man vital alt wird, oder?
Marina Herzmayer: Mhm. Absolut. Mit so viel Wissen, das man gesammelt hat.
Hengstschläger M.: Ja, ja.
Marina Herzmayer: Also, neben Sport, Superfood und viel Schlaf …
Hengstschläger M.: Superfood … ok [lacht]
Marina Herzmayer: … [lacht] … gibt es also doch einige Dinge, die man machen kann.
Hengstschläger M.: Klar.
Marina Herzmayer: Meine letzte Frage an Sie lautet: Wie alt möchten Sie werden?
Hengstschläger M.: Ich möchte so alt werden, dass ich sozusagen bis zum möglichst langen Ende vital-alt bin. Das ist so ein komischer Satz, aber der impliziert natürlich, dass mein Hauptbestreben ist zu sagen: „Ich möchte vital, fit und vor allem geistig und körperlich aktiv alt werden.“ Das interessiert mich und das finde ich spannend. Und dann werde ich übrigens sehr gerne alt. Also das hat mich mein ganzes Leben lang nie gestört. Ich finde alt werden cool.
Marina Herzmayer: Vielen herzlichen Danke, Markus Hengstschläger.
Hengstschläger M.: Ich sage danke.
Marina Herzmayer: Danke.
[Musik]
Marina Herzmayer: Herzlichen Dank auch an alle Zuhörerinnen und Zuhörer. Wenn euch der Podcast gefallen hat, bewertet ihn bitte auf Apple Podcast. Und wenn ihr der Meinung seid, diese Folge sollten mehr Menschen zu hören bekommen, dann empfehlt unser Format gerne weiter.
[Musik klingt aus]